Trulla-la – Eine Reise nach Durlesbach


Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg um S21 mit der Schwäbischen Eisenbahn über Meckenbeuren nach Durlesbach. Ein Treffen mit dem alten Bahnhofswärter und dem verstorbenen Großvater. 
Süddeutsche Zeitung
Februar 2011

Großvater war Rangierer bei der Bundesbahn und sehr ungeduldig. Ich bin froh, dass er nie einem Fahrkartenautomat gegenübergestanden hat.

Mein Zeigefinger hackt auf den Bildschirm wie ein wütender Emu. Die herzlose Maschine zählt die Sekunden zum Verpassen meiner Bahn herunter und ich wühle mich durch ihr kafkaeskes Kartenbestellungsmenü. Mensch gegen Maschine.

Die Arena ist der Tübinger Bahnhof. Es ist Sonntag, halb zehn Uhr morgens. Geplant ist ein Sonntagsausflug. Gemütlich sollte er sein. Eine Reise in die Vergangenheit hatte ich geplant. Auf den Spuren der Schwäbischen Eisenbahn über Ulm und Biberach, nach Meckenbeuren, Durlesbach.

Im Regional-Express 22064 nach Plochingen beginnt er wieder zu nagen, der Ohrwurm, der sich seit Tagen durch mein Denken frisst: Auf de’ schwäb’sche Eisebahne / gibt’s gar viele Haltstatione: / Schtuagert, Ulm ond Biberach / Meckabeure, Durlesbach / Trulla, trulla, trulla-la / Trulla, trulla, trulla-la.

Schtuagert, die erste Station des Lieds, schenke ich mir. Sie ist beherrscht vom Bürgerkrieg ums Megaprojektle und sonntags fahre ich nicht in den Krieg. Eine romantisch-melancholische Reise ins Oberschwaben des mittleren 19. Jahrhunderts kann nicht in einem Hauptbahnhof beginnen, dessen größte Sorge der Anschluss ans 21. Jahrhundert ist.

Außerdem sind die Urheber meines Ohrwurms Tübinger Studenten. Um das Jahr 1850, also kurz nachdem der erste Zug von Stuttgart ins Oberschwäbische Meckenbeuren fuhr, dichteten sie die Geschichte vom einfältigen Bäuerle auf ein Baseler Soldatenlied. Dabei haben sie die Wirklichkeit dem Reim untergeordnet, denn Durlesbach liegt geografisch vor Mekenbeuren. Im Lied kommt es danach. Ich halte mich ans Lied und komme dadurch zweimal an Durlesbach vorbei.

In Plochingen muss ich umsteigen. Ein nass-kalter Novembersonntag scheint mir angemessen für diesen Ort. Auf den ersten Blick unterscheidet er sich nicht von den Bahnhöfe meiner Kindheit. Aber meinem Großvater würde das Klappern der Anzeigetafeln beim Umschalten fehlen. Er würde sich wundern, warum im Gleisbett kaum mehr Kippen liegen, dass sich die Raucher artig in ein gelbes Viereck zurückziehen. Selbst die Bahnschwellen zwischen den Schienen sind nicht mehr aus geteerter Eiche oder Buche, sondern aus Beton. Geblieben aus seiner Zeit, die ja noch gar nicht so lange vorbei ist, sind eigentlich nur die schwarzen Kaugummi-Fladen auf dem Bahnsteig.

Interregio-Express 4225 nach Lindau trägt mich fort von diesem Ort. Studien besagen, der Mensch verfiele bei hoher Geschwindigkeit in eine Art Rauschzustand. Ich verfalle beim Rauschen meines Zuges lediglich in eine Art Müdigkeitszustand.

Während sich der Zug die Geislinger Steige hinaufschraubt, fotografiert sich ein junger Mann im Abteil von unten in die Nase. Er begutachtet das Bild, zoomt heran und scheint unzufrieden. Nebenan verbieten zwei Eltern ihrer Tochter, die Schuhe auf den Sitz zu stellen. Wenn das der Großvater noch sehen könnte. Die ergraute Dame dahinter erklärt ihrem Reisepartner und dem restlichen Abteil, dass das hier dem Mappus sei Steige isch. Ich denke mir: wer eine halbe Stunde früher in Ulm sein will, der soll einen Zug früher nehmen und flüchte mich in meinen Ohrwurm. Trulla, trulla, trulla-la.

In Ulm läuft ein herrenloser Hund über eine Fußgängerbrücke. Links fließt die Donau. Hinter den Gleisen steht in großen Lettern Merckle an einer grauen Fabrikhalle.

Am Fenster zieht ein langes, braunes Band erfrorenen Grases vorbei; unterbrochen von Laupheim, Biberach, Bad Schussenried und all den anderen Bahnhöfe, die aussehen wie Plochingen.

Die Natur hat ihr buntes Herbstkleid abgestreift und sieht kahl und düster aus. Die Schwäbische Alb zeigt ihre Faltenwürfe im Nebel und liegt da wie geronnene Zeit. Die Abstände zwischen den Ortschaften an der Strecke werden größer und zwischen den Strommasten sieht die Landschaft vielleicht so aus wie vor 100 Jahren. Das Schwäbisch der Mitreisenden wird breiter, die Graffiti-Malereien entlang der Schiene einfältiger.

Der Zug bremst ein. Ravensburg. Ich habe Durlesbach übersehen. Also doch zu schnell.

Der nächste Halt ist Meckenbeuren. Eine Stunde Aufenthalt.

Die menschenleere Stadt bildet Neubaugebiets-Metastasen. Auf einem Rohbau steht Du Hurensun gesprüht. Meckenbeuren ist ein Kind der Eisenbahn. Vor dem Bahn-Anschluss war der Ort nicht mehr als eine Straße. In der Kiosk-Kneipe „Dampflok“ lehnen zwölf Männer vor dem Tresen und eine Frau dahinter. Der Nebel ist hier drin noch dichter als draußen.

Die Luft über BOB 87224 scheint zu brennen. Die Bodensee-Oberschwaben-Bahn treibt eine stinkende Diesel-Lok an, denn die Strecke ist noch nicht elektrifiziert. Geplant ist das seit 50 Jahren. In BOB sitzen die gleichen Leute wie in Tübingen und Plochingen und überall sonst. Keine Spur vom fortschrittsgehemmten Oberschwaben, über den sich die Tübinger Studenten mit meinem Ohrwurm amüsieren wollten. Das einfältige Bäuerle, das sein Böckle vor der Fahrt an den letzten Wagen bindet, damit es nicht davon läuft, hat längst einen iPod und bunte Schuhe. Der Zweifel am Anschluss ans Königreich Württemberg von 1815 scheint überwunden.

In Mochenwangen verlasse ich BOB 87224, es ist halb zwei und fast dunkel. Die letzten acht Kilometer sind Fußmarsch. Durch den Wald, in dem sich das Schussental zum Schussentobel verengt. Immer den Gleisen nach.

Kurz nach Mochenwangen wird es still. Zwei Pferde schauen mäßig interessiert zu mir herüber und nach einer Biegung bin ich allein mit dem Wald und den Schienen und der gurgelnden Schussen.

Ringsum hocken Misteln wie fette Eulen in den Bäumen. Ich sehe moosbehaarte Wurzeln, die wie grüne Riesenspinnen in einen Tümpel kriechen. Ich höre das von unten faulende Schilf oben raschelnd lachen und sehe die Heizholzberge, die jemand im Nirgendwo für kalte Tage aufgetürmt hat.

Im Viertelstundentakt zerreißt ein Zug die Stille und verschwindet mit einem Rauschen im Wald. Keiner der Insassen sieht das alte Bahnwärterhäuschen, das sich hinter den dichten Dornen versteckt und das von einem Rottweiler bewacht wird, der jeden Besucher wegzubellen versteht. Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel könnte hier seine Zuflucht gesucht haben, so einsam fühlt es sich an.

Bis in die 90-er Jahre haben hier Gleisgänger ihre Strecken überwacht, mit Schraubenschlüsseln, groß wie Oberschenkelknochen, die Muttern nachgezogen, bei Wind und Wetter.

Heute gibt es keine Streckenläufer mehr. Aber wenn es sie noch gäbe, dann sicher in Durlesbach. Der Bahnhof ruht einsam auf einer schmalen Lichtung mitten im Wald. Die Nachbarschaft erschöpft sich im ehemaligen Bahnhofs-Gasthof, in dessen Vorgarten heute Schafe mit dampfendem Atem in den Nieselregen blöken.

So muss es auch vor 150 Jahren schon ausgesehen haben. Nur die Aufschrift Cafe Allegra stört das Bild ein wenig. Vor acht Jahren haben Petra Bitsch und Michael Norhausen im stillgelegten Bahnhof ihre Goldschmiede eingerichtet. Heute betreiben sie außerdem noch ein Cafe in der ehemaligen Wartehalle und bieten Kurse an, um finanziell über die Runden zu kommen. Mit der Bahn haben sie nichts am Hut, der Kauf war Zufall, es hätte auch ein Bauernhof sein können. Auf dem Seminar-Fahrplan an der Eingangstür steht: Ich singe die Liebe und die Liebe singt mich; Intuitiver Gesang aus dem Augenblick.

Obwohl Michael Norhausen aus Düsseldorf in die oberschwäbische Einsamkeit gezogen ist, habe sich sein Leben beschleunigt. Drei Jobs, sechs Kinder, er wird nicht jünger. Es ist alles so schnell geworden in dieser Welt, sagt er, uns fehlt die Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit. Jeden Tag um kurz vor eins rauscht der Direktzug nach Düsseldorf an seiner Tür vorbei. Nur wir können die Welt verändern, sagt er und schaut auf die leeren Tische.

Außer mir verirrt sich heute niemand mehr ins Cafe Allegra im Durlesbacher Bahnhof, der zwar noch an den Gleisen liegt, für den aber lange kein Zug mehr bremst.

Die letzte Bahn hat hier 1984 gehalten. Anton Hensler hat das Signal gegeben, er war damals im Dienst, der letzte Bahnwärter von Durlesbach. Eine halbe Stunde dauert der Fußmarsch vom Bahnhof nach Reute, dem nächsten Ort, wo der Rentner am Wohnzimmertisch seiner überheizten Stube sitzt und von früher redet.

Das heißt, die meiste Zeit erzählt seine Frau, die den Acker alleine bestellen musste, als der Mann nachdem Durlesbach geschlossen wurde, ins ferne Schorndorf zur Arbeit fuhr. Wenn sie redet kneift er die kleinen Augen zusammen, als zöge ein Sandsturm auf und wartet. So wie er auch als Bahnhofswärter in Durlesbach immer gewartet hat.

Seine Schicht dauerte zehn Stunden. Ab und zu kam ein Zug, für den er die Straße sperren musste, über die nie einer fuhr, weil sie in den Wald führte und nicht mehr heraus. Dann war wieder Ruhe bis zum nächsten Zug. Radio hören war verboten, Bücher haben ihn nicht interessiert. Also hat er gewartet.

Mehr gibt es nicht zu erzählen über seine Arbeit dort unten an der Schussen. An dem Bahnhof, der von Anfang an eine Fehlinvestition war. An dem nicht mehr als acht Passagiere am Tag ankamen. An dem es so still war, dass er eines Morgens die Nachtigall singen hörte. An dem es so einsam war, dass sein Kollege den Vater mit zum Dienst nahm, weil er alleine Angst hatte.

Nicht ganz ohne Grund. Denn wenn doch einmal jemand über die Sackgasse in den Wald fahren wollte, dann konnte es schon Streit geben mit dem Bahnpersonal, das die Schranke auch mal gut und gerne zehn Minuten vor dem Zug herunterließ. Anton Hensler bekam das am 13. Oktober 1978 zu spüren, als ihm einer die Nase blutig schlug, weil er nicht an der Schranke warten wollte. Hensler bekam nicht einmal Schmerzensgeld, weil der Übeltäter später seinen besten Freund mit einem Pflasterstein erschlug, der aber wiederum schon seinen Neffen auf dem Gewissen hatte und das Verfahren so kompliziert machte, dass der Fall Hensler dabei unter den Tisch fiel.

Heute kann er über die Geschichte lachen, nur bei der Gegenwart wird er ernst: Die Bahn heut’ kannsch vergessa. Während sie wegen ein paar Minuten Zeitgewinn Millionen ausgeben, streichen sie auf dem Land Bus und Bahn, sagt er und fegt mit seinen schaufelgroßen Händen die Krümel vom Tisch. Es sind die erdigen Pranken meines Großvaters, an denen immer irgendwo eine kleine Blutblase sitzt und deren Nägel auch sonntags nicht sauber werden. Ich derf da gar net dran denga, sagt er.

Es ist Abend geworden bei den Henslers, der letzte Bus ist um halb fünf gefahren. Er wurde wegrationalisiert.

In der Bahn genieße ich die kurvige Schleichfahrt von Ulm nach Stuttgart und bin froh, dass sonntags keine Berufspendler mitfahren, die mir für diese Aussage, die Nase blutig schlagen würden.

Mich überkommt wieder der Müdigkeitszustand.

Trulla, trulla, trulla-la.