Bombe


Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, und noch heute kämpfen Menschen mit den Altlasten: Millionen Tonnen Sprengstoff in Boden und Meer. Sie zu räumen, ist eine Lebensaufgabe. Mindestens.
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November 2020

In der heißen Sommernacht des 27. Juli 1943 fliegt ein zwanzigjähriger Brite über Hamburg und lässt die tonnenschwere Bombenlast seiner viermotorigen Lancaster ins Dunkle stürzen. Aus seiner Glaskanzel in der Höhe sieht er keine Straßen und Häuser, keine Mütter und Kinder, er sieht nur die roten und gelben Leuchtmarkierungen, die ihm den Weg weisen. Er sieht die viertausend-Pfund-Bomben aus den Royal-Air-Force-Maschinen ringsherum wie durch schweres Wasser in die Tiefe sinken, scheinbar ewig langsam, als hätten sie es nicht eilig, weil die Geschichte längst geschrieben ist.

Heute, drei Generationen später steht der deutsche Ex-Soldat Ronald Weiler im Blaulicht und wartet auf seinen Einsatz. Sprengmeister Weiler muss gleich entschärfen, was die britischen Kollegen vor 77 Jahren über Hamburg abgeworfen haben. „Menschen lassen sich schon eine Menge einfallen, um sich gegenseitig zu quälen“, sagt er. Mit seinem braungrauen Dreitagebart und dem wohlwollenden Blick könnte Weiler auch Vertrauenslehrer sein, wäre da nicht die taktische Kampfmontur.

Binnen weniger Tage im Sommer 1943 gingen 8323 Sprengbomben auf Hamburg nieder, mindestens 2700 größere Exemplare liegen heute noch im Boden. „Die letzte Bombe werden wir nie finden“ sagt Weiler. Er sowieso nicht, mit 59 Jahren hat er es bald geschafft und ein komplettes Arbeitsleben mit dem Entschärfen von Bomben überlebt. Wie viele davon deutschlandweit noch im Boden liegen, kann keiner beziffern. Oft tauchen sie erst auf, wenn gebaut wird. So wie heute Abend in Rothenburgsort im Osten Hamburgs.

Die ersten Informationen verheißen nichts Gutes: 500-Pfund-Bombe, chemischer Langzeitzünder, ist bewegt worden, Baggerfahrer hatte sie in der Schaufel. „Worst-case“, sagt Weiler, der jetzt nur noch in knappen Sätzen spricht. Er steht am Rande des Sicherheitsradius, zwischen einem Nutzfahrzeughändler, einem Gebäudereiniger und einem Schrottplatz, irgendwo im Nirgendwo. Wo heute ein hässliches Industriegebiet steht, flanierten früher die Bewohnerinnen und Bewohner zwischen Straßenbahn und Gründerzeithäusern, ein bisschen New York an der Elbe, bis sie Hakenkreuzflaggen statt Unterwäsche aus den Fenstern hängten und schließlich in Grund und Boden gebombt wurden.

Die Bombe, die wenige Hundert Meter von ihm in einer Baugrube liegt und rund 250 Kilogramm wiegt, zielte auf Heimkehrerinnen und Helfer. Der Langzeitzünder sollte erst detonieren, wenn sich die Leute in Sicherheit glaubten. Doch damit der Mechanismus funktioniert, muss der Sprengsatz mit der Spitze nach unten wie eine Rübe im Boden stecken bleiben. Ein Konstruktionsfehler, denn viele Bomben drehten sich im feuchten Hamburger Boden einmal um die eigene Achse und stecken seither falsch herum im Lehm. Der chemische Langzeitzünder steht so Kopf und aus Stunden der Verzögerung wurden Jahrzehnte. Der Baggerfahrer hat dem Lauf der Geschichte nun eine neue Wendung verpasst und Unvorhersehbares im Zünder in Gang gesetzt. Die Bombe könnte jetzt jederzeit in die Luft fliegen.

Das ist für Weiler ein doppeltes Problem. Zum einen will er nicht dabei sein, wenn das Ding explodiert; zum anderen ist er ab dem Zeitpunkt seines Einsatzes für die Folgen verantwortlich. Ein Dreivierteljahrhundert hatte die Bombe nichts mit ihm zu tun – jetzt zählt für ihn jede Sekunde. Während die Fußtruppen der Polizei die Gegend sichern, tickt die Uhr. Immer mehr Laster rollen an, es entsteht eine kleine Zeltstadt.

Im schwarzen Overall steht Ronald Weiler neben einem doppelt so breiten und einem dreimal so lauten Einsatzleiter, studiert Umgebungskarten und telefoniert in einem fort. Die Polizei geht in der angrenzenden Laubenkolonie von Gartenzaun zu Gartenzaun. Der Luftraum muss gesperrt und die Fabriken gestoppt werden, die Lastwagenfahrer müssen aus ihren Kojen, die Gebrauchtwagenhändler woanders handeln, Autos werden umgeleitet, Schiffe und S-Bahnen angehalten. Man hört viel „Pass auf“ und „Halt“ und „Hol mir mal den ...“. Eine Männerwelt, weit und breit ist keine Frau am Einsatzort.

Als Weiler nach Stunden des Sicherns endlich ans Entschärfen kann, denkt er nicht mehr über die Zeit nach. Er rechnet nicht mehr die vielen Jahre im Boden gegen die vergangenen Stunden seit dem Fund auf. Er will es einfach schnell hinter sich bringen. Über seinem Ehering liegt ein leichter Handschuh während er die Weltkriegsbombe mit einer Hochdruckwasserschneidanlage und 2400 bar öffnet. Zünder verhakt. Weiler zieht den hochsensiblen Sprengkörper von Hand heraus und trägt ihn behände durch den unwegsamen Baustellenschlamm wie ein Neugeborenes zur Krippe, nur dass die Krippe eine Sprenggrube ist, wo Weiler den Zünder endlich kontrolliert in die Luft jagt. Geschafft. Gut 200 Kilo Sprengstoff liegen jetzt ohne Zünder kraftlos im Dreck. Weiler packt zusammen, reinigt sein Werkzeug und fährt nach Hause zu seiner Frau.

Wieder einmal ist alles gut gegangen, und doch wird Weiler die ganze Nacht kein Auge zu bekommen. „War wohl etwas Adrenalin dabei“, stellt er am folgenden Morgen nüchtern in der Einsatzzentrale fest. Und wieder ganz der Lehrer erklärt er zwischen raumhohen Vitrinen voller Zünder jede Schraube. Man könnte ihn sich auch mit Cordsakko und Gitarre auf einer Friedensdemo vorstellen. Doch im Gegensatz zu einigen Kollegen ist Weiler kein Pazifist.

Er war Minentaucher bei der Marine. Ein kalter, dunkler und einsamer Job, der ihn früh zur Bombe führte. Da im trüben Wasser keine Lampe hilft, musste Weiler die Bombe umarmen, um sie zu bestimmen. Für die Vermessung legte er sich flach auf den Sprengsatz, sein Körper als Lineal. Er wusste, dass Sprengstoff über die Jahrzehnte eher potenter wird. TNT detoniert mit rund 7.000 Metern pro Sekunde; die schnellsten Nervenbahnen eines Körpers schaffen gerade mal 120 Meter in derselben Zeit. Würde eine Bombe unter ihm detonieren, bekäme er davon nichts mit. Er wäre tot, bevor er es wüsste. Das half ihm.

Nach der Bundeswehr ging Weiler an Land, wurde Sprengmeister bei der Hamburger Feuerwehr. Da jedes Bundesland für die Bombenfunde selbst verantwortlich ist, hat auch jedes eigene Regeln für den Umgang damit. Mal ist die Polizei zuständig, mal die Feuerwehr – oder wie in Niedersachsen die Landesvermessungsverwaltung. Manche Bundesländer geben die Arbeit an private Unternehmen ab, andere entschärfen selbst. Jede Stelle arbeitet mehr oder weniger für sich. „Wir räumen den Krieg auf“, sagt Weiler. Und in einer Sache ist man sich länderübergreifend einig: Das Problem kann nicht ignoriert werden. „Was mich wirklich wütend macht, ist die aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Haltung der meisten Leute“, sagt Weiler. Auch Hamburg hat die systematische Suche nach Blindgängern längst eingestellt. Nur wer baut, muss das Grundstück vorher sondieren lassen.

Unterdessen rostet am Grund der Meere ein weit größeres Problem vor sich hin. Rund 1,6 Millionen Tonnen explosiver Kampfmittel und weitere 5000 Tonnen chemischer Kampfstoffe liegen in den deutschen Hoheitsgewässern von Nord- und Ostsee. Darunter allein 500 Tonnen Quecksilber. Sind die Behälter einmal durchgerostet, reichert sich ihr Inhalt in den Tieren an. Wie lange es dauert, bis das Gift in unserem Fischbrötchen ankommt, kann niemand sagen. Manche Behälter haben sich bereits aufgelöst, andere liegen noch da wie neu. Sicher ist nur: Ihr Inhalt ist krebserregend und erbgutschädigend.

Der Grund fürs Versenken des Unrats liegt im Misstrauen der Siegermächte. So wie sich mit Kriegsende nicht jene Menschen in Luft auflösten, die kurz zuvor noch begeistert die Arme zum Hitlergruß hochgerissen hatten, verschwanden auch die Bomben am 8. Mai 1945 nicht von selbst. Um sicherzugehen, dass die Munition nicht den Falschen in die Hände fällt, befahlen die Sieger das unverzügliche Verklappen an festen Punkten im Meer. Da die Kapitäne aber pro Fahrt und nicht nach Kilometern bezahlt wurden, warfen viele ihre Ladung irgendwo auf halbem Weg ins Wasser. Die sachgemäße Entschärfung der Kampfmittel wäre damals ein unvorstellbarer Aufwand gewesen.

Das ist sie auch heute noch. Jens Sternheim kann ein Lied davon singen. Ein langes Lied. Bis zu seiner Pensionierung Ende 2019 leitete er den Expertenkreis Munition im Meer. Wie Weiler räumt auch Sternheim die Altlasten auf. Nur eben unter Wasser. Eine Herkulesaufgabe – seine Lebensaufgabe.

Mit der schwarzen Klappe über dem rechten Auge könnte Sternheim auch den Held eines Actionfilms spielen. Doch er trägt sie nicht etwa wegen eines Unfalls beim Hantieren mit einer Granate, sondern wegen einer schweren Krebserkrankung in den Achtzigerjahren. Vielleicht hat diese Krankheit einen Teil dazu beigetragen, dass er sich nach der Ernennung zum Chef des schleswig-holsteinischen Landeskatastrophenschutzes vor 14 Jahren gegen die große Karriere und für ein Lebensthema mit tieferem Sinn entschieden hat. Als er sah, dass sich um das Unterwasserproblem offenkundig niemand scherte, biss er sich daran fest. „Einer muss es ja angehen“, sagt der heute 63-Jährige.

Seine Lösung? Ein umfassendes Munitionskataster. Nicht weniger als die systematische Sondierung des kompletten Meeresbodens. Eine mühselige Kleinstarbeit, die am Schreibtisch eines Militärhistorikers beginnt, der jedes Kriegsschiff mit Vornamen kennt und im Freiburger Militärarchiv auf 30 Regalkilometern nach Randnotizen zu längst vergessenen Scharmützeln fahndet, um einen weiteren Quadratmeter Ostsee abzuhaken. Erst nachdem alle Funde in eine Datenbank übertragen wurden, beginnt die eigentliche Bergung des Materials. Im Vergleich zu Sprengmeister Weiler, der Bomben umarmte und jede Sekunde in die Luft fliegen konnte, mutet diese Aufgabe zum verrückt werden langweilig an. Und doch ist sie von ungleich größerer Tragweite. Die Kosten des Vorhabens sind astronomisch, doch was ist die Alternative? Noch eine Generation warten? „Klar ist: Das Problem wird nur größer und niemals mehr kleiner“, sagt Sternheim, „jetzt ist die Zeit zu handeln!“

Dass das vor ihm noch keiner getan hat, findet er fahrlässig. Man könne wegen einer einzigen seltenen Schmetterlingsart den Bau ganzer Autobahnen lahmlegen, aber Millionen Tonnen Gift lässt man einfach im Meer verrotten? Das geht ihm nicht in den Kopf. „Die Ignoranz der eigentlichen Fachleute im Meeresschutz ist ein Skandal“, sagt Sternheim. Nachdem sich Bund und Länder seit Jahrzehnten die Verantwortung gegenseitig zugeschoben haben, wurde das Thema auf der Umweltministerkonferenz Ende 2019 nun erstmals in vollem Umfang anerkannt. „Das ist ein Paradigmenwechsel“, sagt Sternheim, dessen Plan vom systematischen Aufräumen deutscher Gewässer mit Tauchrobotern in greifbare Nähe rückt. Es ist sein Abschiedsgeschenk.

Deutschland ist Weltmarktführer in Sachen Weltkriegsfolgen. Schon heute ist die hiesige Datenlage zu Munition im Meer weltweit unerreicht. Man spricht bereits vom „German Approach“. Dabei wundert sich Sternheim bis heute darüber, wie wohlwollend er stets als Deutscher auf Konferenzen im Ausland empfangen wurde, „bei allem, was wir angerichtet haben in der Welt“. Das Aufräumen der Kriegshinterlassenschaften ist für Sternheim, Weiler und Kollegen ein kleiner Beitrag zur Bewältigung, hoffen sie. Und wenn nicht, so ist ihre Arbeit doch unumgänglich. Jede Bombe, die vor einem Dreivierteljahrhundert in die Tiefe stürzte, hat ihre Folgen. Gestern, heute oder morgen. Sich davor zu verschließen, ändert an diesem Problem ebenso wenig, wie die Frage nach der Schuld.