Erst die Lösung, dann das Problem


Die Zahl der Wohnungslosen in Europa nimmt rasant zu. Nur in Finnland nicht. Dort bekommt jeder eine Wohnung, der eine braucht.
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April 2020


Was tun als Stadt, wenn sich ein Obdachloser am Bahnhofsvorplatz breitmacht und den Ankommenden das Ankommen vergällt? Weil er nicht hübsch anzusehen ist, oder weil er sie daran erinnert, dass ein sozialer Abstieg möglich ist. Nun, man kann in den Boden Dornen aus Metall schrauben, zwischen die kein Schlafsack passt. Man kann Dachvorsprünge vergittern und Bänke so abschüssig zimmern, dass man darauf zwar sitzen, aber nicht liegen kann. Man kann abgelegene Ecken grell beleuchten und ruhige Plätze mit blecherner Klassik in Endlosschleife beschallen. Das nennt sich defensive Architektur.

All das kann man tun, um Obdachlose loszuwerden. Sie ziehen dann um an einen neuen Ort, und die defensive Architektur zieht nach. Oder man macht es wie Finnland und gibt diesen Menschen einfach eine Wohnung. Und zwar nicht, weil man gerade zu viele davon übrig hätte, sondern weil man im Wohnen ein Grundrecht sieht. Für alle. Ein Obdachloser ist in den Straßen Helsinkis kein öffentliches Ärgernis, sondern ein sozialer Missstand, der behoben werden muss. Wer keine Wohnung hat, dem fehlt eine, also kriegt er eine. Das ist ein radikaler Bruch mit der gängigen Praxis in beinahe allen Industrienationen.

Obwohl es weder eine einheitliche Definition noch eine belastbare Zählung der Wohnungs- und Obdachlosen in Europa gibt, ist eines sicher: Beide Probleme nehmen seit Jahren zu. Die Hauptgründe dafür sind das teils miserable Sozialsystem wie in Polen und Ungarn, eine wachsende Ungleichheit und Armut sowie ein immer angespannterer Wohnungsmarkt. Nur in Finnland sinken die Zahlen seit Jahren.

Wenn Juha Kaakinen aus dem Fenster seines überschaubaren Vorstandsbüros im neunten Stock über Helsinki schaut, dann sieht er links das Hilton, rechts den Botanischen Garten und dazwischen ein paar Passanten, die mit asymmetrischen Frisuren und gefüllten Stofftaschen ins ehemalige Arbeiterviertel Kallio spazieren. Was er von seinem Hochstand aus nicht sieht, sind Schlafsäcke in Hauseingängen, Zelte unter Brücken und Isomatten unter Dachvorsprüngen. „Es gibt in Finnland praktisch keine Straßenobdachlosigkeit mehr“, sagt Kaakinen. Sein Land hat das Platte-Machen plattgemacht.

Als Vorstand der Y-Stiftung ist Kaakinen das Gesicht des finnischen Kampfes gegen die Wohnungslosigkeit. Seit Jahren erklärt er auf großen Bühnen oder in den Besprechungszimmern der Entscheidungsträger auf der ganzen Welt das finnische Modell. Immer und immer wieder.

Dabei ist der Grundsatz schnell erklärt: Wer eine Wohnung braucht, der kriegt eine. Wer dazu noch Unterstützung durch Sozialarbeiter benötigt, der bekommt auch die – solange er will. Das Modell heißt Housing First und klingt einleuchtend. Aber es ist das Gegenteil des anderswo vorherrschenden Stufen-Systems, in dem der Wohnungslose erst beweisen muss, dass er einer Bleibe würdig ist.

Ein Mensch, der seine Wohnung verloren hat, soll glaubhaft machen, dass ihm das nicht wieder passieren wird. Für manche funktioniert das, für jene, die schon länger auf der Straße leben und zudem mit einer Sucht oder psychischen Krankheit zu kämpfen haben, funktioniert es nicht. Eine Hürde ist die ständige Unsicherheit. Denn bevor Menschen als „wohnfähig“ gelten, müssen sie mehrere Stufen erreichen, was fast immer mit einem Umzug in eine weitere, zeitlich begrenzte Notunterkunft verbunden ist. Die eigene Wohnung ist die Karotte am Ende des Stocks, die viele nie erreichen.

Eine weitere Hürde ist die Suchtfreiheit. Von der Vermieterseite aus betrachtet, klingt die Forderung verständlich: Wer will schon einen Junkie in seinem Haus? Allerdings betäuben sich viele Obdachlose auch deshalb, weil das Leben auf der Straße ohne Alkohol oder Drogen schwer auszuhalten ist. Und wer einmal mit seiner Sucht dort lebt, der wird sie angesichts der widrigen Umstände kaum los. Viele könnten ihre Abhängigkeit in den Griff kriegen, wenn sie eine eigene Bleibe hätten – bekommen aber keine, da sie ja drogenabhängig sind. Ein Teufelskreis.

In Finnland hat man die Logik daher umgedreht. Man beginnt mit der Lösung – der eigenen Wohnung – und nimmt sich von dort aus der Probleme an. Mit großem Erfolg: 80 Prozent der ehemals Wohnungslosen können ihre Wohnung nach dem Einzug dauerhaft halten. Viele von ihnen werden von Sozialarbeitern unterstützt. Manche nur wenige Monate oder Jahre lang, andere bis an ihr Lebensende. Das Konzept wird weltweit bewundert. Ein britischer Kollege Kaakinens soll auf die Frage, was ein Obdachloser in Großbritannien am dringendsten brauche, einst geantwortet haben: „Ein Ticket nach Helsinki.“

Juha Kaakinen studiert in den Siebzigerjahren Literaturwissenschaft und Philosophie in Helsinki, doch als er von seinem Wehrdienst heimkehrt, hat er eine junge Familie zu versorgen und entscheidet sich gegen die Schriftstellerei und für eine Schnellausbildung zum Sozialarbeiter. Eine Entscheidung, die zwar seine literarische Karriere verhindern, dafür aber einigen Menschen das Leben retten wird.

Zu Beginn arbeitet er als Sozialarbeiter mit Obdachlosen, später wechselt er in eine Einrichtung, die öffentliche Stellen zu sozialen und gesundheitlichen Fragen berät, und steigt dort zum Direktor auf. Im Jahr 2006 bittet ihn die finnische Regierung um eine Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlung zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit im Land. Sein Team forscht, schreibt und empfiehlt. Der Befund: Die Lage sei ernst, aber man könne sie in den Griff kriegen. Institute forschen, schreiben und empfehlen ständig irgendetwas, umgesetzt wird davon meist wenig. In Finnland aber nimmt man die Forscher ernst. So ernst sogar, dass die Regierung zwei ambitionierte Ziele setzt: Bis 2011 soll die Langzeitwohnungslosigkeit halbiert und bis 2015 komplett eliminiert werden.

Zwar verfehlt Finnland beide Ziele, aber die Fortschritte sind enorm. Zwischen 2008 und 2015 sinkt die Langzeitobdachlosigkeit um ein Drittel. Im selben Zeitraum steigt sie etwa in England um 134 Prozent. Innerhalb der ersten drei Jahre stellt Finnland 1519 neue Sozialwohnungen bereit. Seit 2008 wurden 7000 Wohnungen an Menschen ohne Bleibe vermittelt. Heute muss jeder vierte Neubau eine Sozialwohnung sein, am Gesamtbestand machen sie schon 13 Prozent aus. Und am Ziel, die Wohnungslosigkeit abzuschaffen, hält der Staat fest, nun soll es 2027 erreicht sein. Kaakinen hält das für machbar: „Es ist nur eine Frage des politischen Willens.“

Verantwortlich für das Auftreiben des neuen Wohnraums in Finnland ist wiederum Kaakinen, der kurz nach seiner Empfehlung an die Regierung bei der finnischen Y-Stiftung anheuert, die er seit 2013 leitet. Sie kauft und baut im ganzen Land kleine, bezahlbare Wohnungen und vermietet sie meist an die jeweilige Kommune, die sie wiederum an Bedürftige und Wohnungslose weitervermietet. „In unserem System arbeiten alle zusammen“, sagt Kaakinen. „In anderen Ländern fehlt das oft, und manchmal konkurrieren die Akteure miteinander, nicht selten geht es dabei ums Geld.“

„Wir müssen bauen, bauen, bauen“, sagt Kaakinen, denn nur so lässt sich die Wohnungslosigkeit abschaffen. Aktuell besitzt die Y-Stiftung 17 500 Wohnungen, rund 10 000 davon mit Sozialbindung. Damit ist sie zum viertgrößten Vermieter des Landes aufgestiegen.

Das Geld dafür bringt die Stiftung zur Hälfte selbst auf, der Rest kommt vom staatlichen Glücksspielmonopol, das seine jährlichen Einnahmen von mehr als einer Milliarde Euro an soziale Einrichtungen im ganzen Land ausschüttet. Die Y-Stiftung erhält davon 2020 rund 6,6 Millionen. Kaakinen ist heilfroh über jeden Spieler im Land, dessen persönliche Verluste den Bau neuer Sozialwohnungen finanzieren. Wenn die Leute schon etwas Dummes machen, so seine pragmatische Haltung, dann wenigstens für einen guten Zweck. Dieses Jahr kauft die Stiftung von dem Geld etwa 100 Wohnungen für Obdachlose.

Daneben baut sie mithilfe staatlicher Darlehen jährlich 300 bis 400 neue Sozialwohnungen. Wer heute in Helsinki eine Wohnung mietet, der zahlt im Schnitt je nach Gegend zwischen 19,60 und 25,40 Euro pro Quadratmeter. Kaakinens Wohnungen kosten rund 13 Euro pro Quadratmeter. Sie stehen nicht nur Obdachlosen, sondern auch Menschen mit geringem Einkommen zu. Das soll sowohl Sozialneid als auch das Abrutschen in die Wohnungslosigkeit verhindern: Der Arme von heute ist oft der Obdachlose von morgen.

„Gegen Obdachlosigkeit vorzugehen ist nicht billig“, sagt Kaakinen, „aber wenn wir das Problem ignorieren, dann wird es noch viel teurer.“ Dass das Housing-First-Programm wirkt, ist wissenschaftlich erwiesen. Komplizierter ist es mit der Profitabilität. Rund 9600 Euro spare der Staat pro Wohnungslosem, dem er eine eigene Wohnung gibt, statt ihn anderweitig zu versorgen, heißt es auf den Seiten der Y-Stiftung. Grundlage dafür ist die Evaluation von Virpi Sillanpää vom Institut für Informations- und Wissensmanagement der Technischen Universität in Tampere, etwa zwei Zugstunden nördlich von Helsinki. Bevor sie ausführt, wie kompliziert eine solche Rechnung sei, muss die 48-jährige Wissenschaftlerin erst einmal tief Luft holen. Im Jahr 2010 hat sie mit ihrem Team 15 Bewohner einer Einrichtung unweit ihres Büros untersucht.

Die bürokratischen und datenschutzrechtlichen Hürden habe sie unterschätzt, die Ergebnisse aber hätten sie überzeugt: Die zu erwartenden Einsparungen bei Notunterkünften waren gut dreieinhalb mal so hoch wie die Mehrausgaben durch die Miete. Wegen der besseren Betreuung durch Sozialarbeiter stieg die Zahl der Arztbesuche zwar leicht an, dafür halbierten sich aber die Notdiensteinsätze. Die Polizeieinsätze gingen sogar um 90 Prozent zurück. Aufs Jahr gerechnet lägen die Einsparungen für den Staat so bei den oben genannten 9600 Euro pro Person. Dennoch seien solche Rechnungen mit Vorsicht zu genießen, sagt Sillanpää. Es gebe immer eine Vielzahl an Faktoren, die nicht berücksichtigt werden könnten.

Juha Kaakinen sagt: „Es ist wirtschaftlich immer klüger, Obdachlosen ein Zuhause zu geben.“ Aber das dürfe kein Argument sein. Eine Schule werde auch nicht gebaut, weil ihr Betrieb einen Gewinn abwerfe, sondern weil sie gesellschaftlich notwendig sei. „Wohnen sollte Teil der staatlichen Infrastruktur sein, wie Wasser und Gehwege“, sagt Kaakinen. Angesichts der finanziellen Mittel Europas sei es nicht schwer, die Lage der Wohnungslosen deutlich zu verbessern, sagt der 65-Jährige. „Das Bewusstsein für die Schwächeren ist ein Indikator für den Zustand unserer Gesellschaft. Wohnungslosigkeit kann bekämpft werden, es ist eine Frage der Solidarität aller. Diese Menschen können nicht warten, sie sterben jeden Tag auf den Straßen Europas.“ Der finnische Konsens darüber, dass Wohnen ein Grundrecht ist, überlebte sowohl rechte als auch linke Koalitionen.

Deutschlands Hauptstadt will davon lernen. Der Verein Berliner Stadtmission und die gemeinnützige Organisaton Neue Chance haben im Oktober 2018 ein Modellprojekt entwickelt, zusammen mit der Senatsverwaltung. „Housing First Berlin“ soll innerhalb von drei Jahren mindestens 40 Obdachlosen zum eigenen Mietvertrag verhelfen. Sebastian Böwe ist für die Beschaffung der Wohnungen zuständig, darf aber, anders als seine Kollegen in Finnland, nicht selbst bauen. Bis jetzt hat er 25 Menschen einen eigenen Wohnraum vermittelt. Er macht folgende Rechnung auf: „Nehmen wir einen Klienten von mir. Der kriegt vom Amt jede Nacht einen Übernachtungsgutschein über 40 Euro. Das sind 1200 Euro pro Monat. Dem hab ich jetzt eine Wohnung für 348 Euro vermittelt. Warm. Da ist immer noch genug Geld übrig für eine Menge Betreuungsstunden.“ Zum Wohnungsmangel in Berlin sagt er nur: „Ich habe bis jetzt für jeden im Programm eine Wohnung gefunden. Man muss nur richtig suchen.“ Für Böwe ist alles kein Problem. Er ist der Typ, der auch bei einem Bauchschuss abwinken und „allet halb so wild“ sagen würde.

Sein schweres schwarzes Motorrad steht auf dem Bürgersteig vor dem Laden. Für die Klienten ist er eine mythische Figur, der Herr der Schlüssel. Er kennt den Hochzeitstag der wichtigsten Wohnungsbaugesellschaftsbosse, ihm stecken die Hausmeister die heißesten Auszugspläne. Böwe entgeht seit 20 Jahren kein Leerstand. Wäre er korrumpierbar, wäre er Berlins erfolgreichster Makler. Ist er aber nicht.

Die meisten Wohnungen kommen von Genossenschaften und Wohnungsbaugesellschaften. Manchmal wenden sich auch private Vermieter an ihn. Das Risiko sei minimal, beteuert Böwe. Wenn er einen Klienten vermittle, dann nur, wenn alles passe. Die Miete komme ohnehin vom Amt. Und für Notfälle gebe es einen kleinen Hilfsfonds, den man aber noch nicht habe anzapfen müssen. Oft seien die neuen Bewohner sogar überangepasst, löcherten die Mitarbeiter über Feinheiten der Mülltrennung, um nur bloß nichts falsch zu machen oder negativ aufzufallen in der neuen Nachbarschaft.

Professor Volker Busch-Geertsema, Projektleiter der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung in Bremen, ist seit 1995 nationaler Berichterstatter des European Observatory on Homelessness, das er seit 2009 leitet. Finnland sei beispielhaft, weil man sich dort konsequent um die Beschaffung von bezahlbarem Wohnraum für Wohnungslose gekümmert habe. Aber das allein reiche nicht, es komme auch auf die Haltung an: „Obdachlose sind oft keine Sympathieträger, das sind keine knuddeligen Seelöwenbabys, sondern Menschen in Not. In Finnland ist das Sozialstaatsverständnis ein anderes. Obdachlosigkeit ist dort ein sozialer Skandal, den der Staat nicht zulassen kann.“

Wie sein finnischer Kollege Juha Kaakinen hält Busch-Geertsema nicht viel von einer rein ökonomischen Argumentation: „Wenn ich dem Kämmerer die Rechnung mit den gesparten Übernachtungsgutscheinen aufmache, dann sagt der mir, dass die meisten Obdachlosen ihre Gutscheine aber nicht jede Nacht abholen. Wenn ich ihm zeige, dass die Leute seltener ins Gefängnis kommen, dann sagt der mir, dass er deshalb aber nicht den Knast schließen oder fünf Zellen abreißen kann.“



Definitionen
Zu den Wohnungslosen wird in Deutschland jeder gezählt, der keine eigene, mit einem Mietvertrag abgesicherte Wohnung hat. Dazu zählen auch Menschen, die vorübergehend in freien und staatlichen Einrichtungen oder bei Bekannten unterkommen. Als obdachlos gilt nur, wer im Freien schläft.

Die Lage in Deutschland Die Zahl der Wohnungslosen soll hier voraussichtlich erstmals im Januar 2022 offiziell erfasst werden. Gezählt werden aber nur Wohnungslose in Notunterkünften. Eine Gesamtschätzung liefert jedes Jahr die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Demnach waren 2018 etwa 678.000 Menschen wohnungslos – fast dreimal so viele wie 2008. Rund 41 000 schliefen im Freien. Niedrigere Zahlen veröffentlichte die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung in Bremen: Sie kam im Mai 2018 auf 313.000 bis 337.000 Menschen ohne Wohnung. Allerdings wurden nur Menschen gezählt, die Hilfen vom Staat in Anspruch nahmen. Für ein vollständigeres Bild sollen die nächtlichen Obdachlosenzählungen sorgen. So haben in einer Januarnacht dieses Jahres in Berlin gut 2700 Freiwillige alle gezählt, die in öffentlichen Einrichtungen oder auf der Straße schliefen. Sie fanden 1976 Personen, die tatsächliche Zahl dürfte weit höher liegen. Als man in Hamburg 2018 eine ähnliche Zählung durchgeführt hatte, fand man 1910 Obdachlose – fast doppelt so viele wie neun Jahre zuvor. Und das ist auch die Gemeinsamkeit aller Statistiken: Die Zahlen steigen.

Housing First Seinen Ursprung hat der Ansatz im New York der frühen Neunzigerjahre. Dort entwickelte Sam Tsemberis als Direktor der Organisation Pathways to Housing eine Methode, um Wohnungslosen zu helfen, die zusätzlich mit psychischen Krankheiten oder Suchterkrankungen zu kämpfen hatten. Die Idee, ihnen erst einen sicheren Wohnraum mit intensiver Betreuung zu geben, um dann die anderen Probleme anzugehen, entlehnte er dem Ansatz des unterstützten Wohnens aus der Psychiatrie.

Sterblichkeit
Da es auch zu Kältetoten keine offiziellen Statistiken gibt, trägt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe Zeitungsmeldungen aus dem ganzen Land zusammen: Im Winter 2018/19 sind demnach mindestens zwölf Menschen in Deutschland erfroren. Die tatsächliche Zahl liegt deutlich darüber. Wer auf den Straßen Europas schläft, stirbt im Schnitt 30 Jahre früher als Menschen mit einer Bleibe.
Keiner will sie
Auf dem freien Wohnungsmarkt haben Obdachlose keine Chance. Selbst die meisten Sozialwohnungsunternehmen wollen hierzulande von ihren Mietern eine Schufa-Auskunft sehen. Wie die bei jemandem aussieht, der auf der Parkbank schläft und dessen Besitz in einen Rucksack passt, kann man sich vorstellen. Auch viele soziale Träger vermieten lieber an Krankenschwestern und Busfahrerinnen als an Leute von der Straße.

Ein Menschenrecht
Das „right to housing“ ist bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgeschrieben, und auch in Deutschland sind Zuschüsse für angemessenes Wohnen prinzipiell einklagbar. Ins Grundgesetz hat es das Wohnen aber nie geschafft. Mit dem Versuch, den Anspruch darauf in die Verfassung aufzunehmen, ist zuletzt 2017 die Partei Die Linke gescheitert.

Bedarf in Deutschland
In Deutschland gibt es im Jahr 2020 knapp 1,2 Millionen So-zialwohnungen, 1990 waren es noch 2,9 Millionen. Insgesamt fehlen mehr als eine Million bezahlbare Wohnungen, und der Bestand schrumpft weiter. Laut der European Federation of National Organisations Working with the Homeless geben arme Haushalte in Deutschland knapp die Hälfte ihres Ein-kommens für die Miete aus. Im europäischen Vergleich ist die Lage nur in Griechenland und Bulgarien prekärer.