Land im Aufbruch


Jeder fünfte Mensch auf der Welt lebt heute in INDIEN. Die größte Demokratie der Welt wird international immer wichtiger. Auch für Europa. Einblicke in ein Land, dessen Wirtschaft jährlich um gut sechs Prozent wächst und das gleichzeitig mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit kostenlosen Grundnahrungsmitteln versorgen muss.

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Januar 2024


Eine Serie über ein Land der großen GegensätzeDiese Serie geht den großen Umbrüchen nach, die Indien derzeit durchlebt, und sie begleitet Menschen, die durch diesen Wandel navigieren. Wie unser erster Protagonist, der Bügler Motilal Kanojia.

Motilal Kanojia steht da, wo er immer steht. In seinem selbst gebauten Verschlag in der 21-Millionen-Einwohner-Metropole Mumbai an der Westküste Indiens. Und er macht das, was er immer macht: wuchtet sein gusseisernes Bügeleisen, in dessen Innerem rote Kohlen glühen, über die Business-Hemden und Ausgeh-Saris der Nachbarschaft. Von morgens bis abends, sieben Tage die Woche. Hier steht er seit mehr als 25 Jahren, hier stand er, als wir ihn 2019 besucht hatten, und hier wird er stehen, bis er das Eisen nicht mehr heben kann (siehe auch Mikroökonomie 07/2020). Das wird sein Leben gewesen sein, darüber macht sich der 44-Jährige keine Illusionen: „Ich bin ein alter Mann. Was für mich zählt, ist nur noch das Leben meiner Tochter.“

Mit 16 Jahren schickte ihn der Vater ins 1.500 Kilometer entfernte Mumbai, das damals noch Bombay hieß und als aufstrebende Finanzmetropole ein besseres Leben versprach. Schon seine Eltern haben mit dem Kohlebügeleisen ihr Geld verdient sowie deren Eltern und Großeltern. Die großen Richtungsentscheidungen im Leben des Motilal Kanojia waren bei seiner Geburt bereits gefällt. Der Sohn eines Büglers wird Bügler. So wie die Sonne morgens auf und abends untergeht. Den Rest entschieden die Eltern wenig später, mit der Wahl der Ehefrau und der Aussendung nach Mumbai (siehe Indien in Zahlen und Fakten).

Kanojia und sein Kohlebügeleisen stehen für das ewige Indien. Für jenes Land, dessen Grenzen und Machthaber sich über die Jahrtausende oft verändert haben, das im Inneren aber von einer Kraft zusammengehalten wird, die jeden Wandel zu verdauen scheint. Wie auch der Hinduismus keine Scheu hat, die Götter fremder Religionen in den eigenen Kosmos aufzunehmen. Das ist das ewige Indien, das wir immer wieder besucht haben und auch für die Recherche zu dieser Serie wiederfinden. Und gleichzeitig ist diesmal alles anders – auch für Motilal Kanojia.

Denn das Land steckt mitten im Umbruch. Fast jeder fünfte Mensch auf der Welt lebt heute in Indien. In einer gleichsam stark beschleunigten wie verlangsamten Realität. Das bevölkerungsreichste Land der Erde hat Hunger nach Wohlstand, Aufstieg und Mitsprache. Kaum eine Volkswirtschaft wächst schneller. Allein der indische Energiebedarf wird sich zwischen 2020 und 2035 verdoppeln.

Zwischen 2010 und 2021 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Schnitt um 5,3 Prozent, heute ist das Land mit 3,4 Billionen Euro die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens. Obwohl die Pandemie das Tempo abgeschwächt hat, rechnet die Regierung für 2023 mit einem realen Wachstum des BIP um 6,9 und für 2024 mit 6,3 Prozent.

Zwischen 2011 und 2019 konnte der Anteil der Menschen in extremer Armut (weniger als 2,15 Dollar täglich) halbiert werden. Die Arbeitslosenquote lag 2023 offiziell bei 3,2 Prozent. Mehr als eine halbe Milliarde Menschen geht in Indien einer Beschäftigung nach, mehr als die Hälfte von ihnen sind selbstständig.

Laut Berechnungen der State Bank of India soll bis zur Feier der hundertjährigen Unabhängigkeit im Jahr 2047 die Zahl derer, die eine Einkommensteuererklärung einreichen, um das Sechsfache steigen – auf 482 Millionen. Damit wäre das Land angekommen in der Liga der Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen.

Auf dem Papier liest sich das alles wunderbar. Aber die Wirklichkeit ist komplizierter. Wie verzerrt das Bild bisweilen sein kann, das korrekte Zahlen zeichnen, dazu später. Vorerst genügt die Erkenntnis, dass die größte Demokratie der Welt mitten in einer Hyper-Transformation steckt, die Chancen wie Gefahren birgt. Und dass sie immer näher an Europa rückt. Durch die wachsende Distanz zu China, das Ringen um Fachkräfte und das Freihandelsabkommen. Bisher galt: Wenn in China ein Sack Reis umfällt, wackeln in Deutschland die Lieferketten. Wer in die Zukunft schaut, sollte die Reisfelder Indiens im Blick behalten.

Keine leichte Übung bei diesem schwer greifbaren Land, das sowohl den Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi als auch seinen Mörder Nathuram Godse als Patrioten verehrt; und dessen reichster Mann, Mukesh Ambani, vom Schlafzimmer seines Privathochhauses mit 600 Angestellten auf Nachbarn schaut, die sich zu Hunderten eine Toilette teilen.

Zum einen ist da Narendra Modi, dessen Konterfei neuerdings von jeder freien Fläche der Finanzmetropole lächelt, mal fassadenfüllend mächtig, mal hundertfach kilometerlang nebeneinander auf Plakaten. Während sich eine Taxifahrt vor fünf Jahren noch wie ein Trip durch den Netflix-Startbildschirm eines Heranwachsenden anfühlte, so voll war die Stadt mit knalligen Bollywood-Plakaten, auf denen Muskelmänner Bikinifrauen vor Explosionen retteten, scheint es Ende 2023, kurz nach dem G20-Gipfel in Mumbai, nur noch einen Film zu geben: Großmacht Indien. Buch, Regie und Hauptrolle: Narendra Modi. Die ganze Stadt ist in den Farben der Regierungspartei tapeziert. Ein ruhiges Grün, ein warmes Orange und ein gütig-überlegen lächelnder Premier mit weißem Vollbart. Ein bisschen wie in einer Wohngruppe für Schwermütige.

Während die Welt versucht, ihre Allianzen neu zu sortieren, steht Indien mit offenen Armen und stolzer Brust in der Mitte. Hier besteht kein Zweifel daran, wer die Eins in der neuen China-Plus-Eins-Welt ist. Die Botschaft der allgegenwärtigen Plakate lautet: Fortschritt und Einigkeit.

Doch bei der Einigkeit ist man uneins. Das Land ist politisch tief gespalten. Viele der 200 Millionen Muslime sowie andere Minderheiten im Land fühlen sich durch die regierenden Hindu-Nationalisten zunehmend marginalisiert und bedroht (siehe Indien in Zahlen und Fakten). Je nach Gesprächspartner ist die Lage euphorisch bis verzweifelt. Manche fürchten um ihr Leben, einige träumen vom Auswandern, andere sehen goldene Zeiten kommen.

Und was ist mit dem Fortschritt? Wo versteckt der sich am Kohlebügeleisenstand von Motilal Kanojia? Der heute noch so arbeitet wie sein Urgroßvater? Der wenig Hindi und kein Englisch lesen kann und so wenig verdient, dass das Finanzamt ihn in Ruhe lässt? Der Fortschritt steckt in seiner Hosentasche. Wer ihm die sechs Rupien (sieben Cent) fürs Bügeln eines Hemdes zahlt, reicht ihm heute keinen Schein mehr, sondern scannt mit dem Mobiltelefon einen Barcode auf Kanojias Telefon. Ausrangiert ist sein abgegriffenes Notizbuch, in dem er bis vor Kurzem in mühsamer Handschrift die Beträge notierte, die er seinen Kunden schuldete, die mit zu großen Scheinen zu ihm kamen. Jetzt kommt das Geld stets passend in Sekunden bei ihm an.

Abschied vom Bargeld

Jeder Teehändler am Bahnhof, jede Zwiebelverkäuferin am Straßenrand rechnet nun so ab. Als hätte ein ganzes Land einfach so den Schalter von analog auf digital umgelegt. Bargeld hat seinen Sinn verloren. Egal wen wir auf unseren Reisen durchs Land treffen, fast alle haben das Portemonnaie durch ihr Mobiltelefon ersetzt. Geldautomaten ziehen keine Menschenmassen, sondern nur noch Staub an. Bares wirkt hier so praktisch wie eine VHS-Kassette mit Festnetzanschluss. Das ist einer der großen Umbrüche, um die es in dieser Serie geht.

Wem die jähe Digitalisierung zu verdanken ist – der Regierung oder der Pandemie –, darüber streiten die politischen Lager. Unbestritten ist, dass dahinter ein enormer Kraftakt der Verwaltung steckt. Ein Kraftakt, der 1,4 Milliarden Menschen ein einfaches und schnelles Bezahlsystem beschert hat – das auch noch ziemlich gut funktioniert.

Verantwortlich dafür ist JAM. Das Akronym steht für Jan Dhan (Konto für alle), Aadhaar (Sozialversicherungskarte) und Mobiltelefonie. Diese drei Bausteine haben ein digitales Ökosystem ermöglicht, das weltweit Standards setzt. Ziel dieses Regierungsprogramms von 2014 war es, das ganze Land ans Bankenwesen anzuschließen. Rund die Hälfte der Erwachsenen hatte bis dahin kein Konto. Schätzungen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds zufolge kostete dieser Umstand zwischen einem halben und zwei Prozentpunkten des indischen Bruttoinlandsproduktes jährlich. Die Vereinten Nationen rechnen finanzielle Inklusion zu den bedeutendsten Zielen für die nachhaltige Entwicklung von Schwellenländern.

Eines der dringlichsten Ziele der Regierung war es, die Auszahlungen von Sozialleistungen in den Griff zu kriegen. Man stelle sich vor, wie bisher Hunderte Millionen von Empfängern ohne Konto, die sich auf 600.000 teils nur zu Fuß erreichbare Dörfer verteilten, mit Hilfsleistungen versorgt wurden. Noch dazu in einem Land, dass sich vor der deutschen Bürokratie in Sachen Vertracktheit nicht verstecken muss. Der Großteil der Zahlungen versickerte daher bei korrupten Zwischenhändlern. Auch wer ohne Konto Kredite aufnehmen musste, war auf dubiose Geschäftemacher angewiesen. Die staatlichen Mikrokredite zu günstigen Konditionen gibt es nur mit Konto. Unerreichbar für die Hauptzielgruppe: Indiens 90 bis 150 Millionen Landwirte (auch über diese Zahl wird gestritten).

Der erste Teil des JAM-Programms war die flächendeckende Versorgung mit Mobiltelefonen und Internet. Diese Erfolgsgeschichte ist bekannt. Mit ihr wuchsen Wohlstand und Bildung – allerdings auch die Zahl der Lynchmorde in Folge von Hetze in sozialen Medien. Heute haben 1,2 Milliarden Menschen im Land ein Telefon mit Internet; der günstigste Datentarif kostet weniger als einen Euro pro Woche. Damit ist fast das ganze Land online und der 5G-Empfang in jedem Fischerdorf besser als im ICE zwischen Kassel und Hannover.

Teil zwei sind die Jan-Dhan-Konten: einfach zu eröffnende Bankkonten ohne Mindesteinlage. Damit sollte die bisher abgehängte Hälfte der Bevölkerung an die monetäre Moderne angeschlossen werden. Und wie sie angeschlossen wurde. Im Schnitt zwei Millionen Konten wurden in den ersten Jahren jede Woche eröffnet. Ende August 2014 waren es sogar 18 Millionen pro Woche – genug für einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde.

Neun Jahre später haben 500 Millionen Menschen ein solches Konto eröffnet und zusammen 22,8 Milliarden Euro eingezahlt. Rund 55 Millionen von ihnen erhalten darauf Sozialleistungen, die ihnen ohne Wegzoll überwiesen werden. Zwei Drittel der Kontoinhaber kommen vom Land, gut die Hälfte davon sind Frauen.

Die dritte Stufe des JAM war die Aadhaar-Karte. Wer ab 2018 Geld vom Staat empfangen wollte, musste sich biometrisch erfassen lassen. Und bekam dafür eine Karte mit einer zwölfstelligen Identifikationsnummer, die mit Anschrift und Konto verknüpft ist. Eine Voraussetzung, die nun auch die Ärmsten im Land erfüllen konnten. Im November 2023 waren knapp 1,4 Milliarden Aadhaar-Karten verteilt – und damit fast die gesamte Bevölkerung versorgt.

JAM ist seinerseits wieder ein Baustein in einem größeren Gefüge namens India Stack. Dabei geht es um die ganz großen Digitalisierungsfragen des Landes: Alle Bürger sollen virtuell geschäftsfähig werden, die Verwaltung papierlos und das Bezahlen bargeldlos. Das Ganze mit einer offenen Schnittstelle für die Privatwirtschaft.

Damit schließt sich der Kreis zu Kanojias Bügeleisenstand. Denn als die Menschen mit Internet, Konten und eindeutigen Identifikationsnummern versorgt waren, schlug die Stunde des Unified Payments Interface (UPI) – jenes Zahlungssystems, das Kanojia nun täglich nutzt. Die digitale Schnittstelle verbindet alle Konten des Landes und ermöglicht sekundenschnelle Überweisungen. Kostenlos.

Das vielleicht größte Wunder daran: Es funktioniert ausgezeichnet. Im August 2023 wurden mehr als zehn Milliarden monatlicher Transaktionen mit einem Volumen von 167 Milliarden Euro verbucht. Ein kleiner Teil davon ging an Kanojia, der erzählt, dass ihm jetzt, da er kein Bargeld mehr in der Tasche habe, auch das Sparen leichter falle.

Großer Erfolg – für fast alle

Der Internationale Währungsfonds nennt JAM und India Stack Meilensteine, von denen sich andere Länder auf dem Weg in die digitale Zukunft etwas abschauen könnten. Wegweisend sei der modulare Aufbau und dass die Einzelteile am Ende so gut zusammenpassten, sei offenen Standards zu verdanken. Damit war die Wirtschaft von Anfang an eingebunden und an der Weiterentwicklung beteiligt – im eigenen Interesse. Heute laufen 68 Prozent aller überwiesener Rupien im Land über die UPI-Schnittstelle. Der Staat erreicht mit Sozialleistungen und Mikrokrediten nun jene, die er erreichen will. Und auch die Privatwirtschaft profitiert. Während Banken die physische Legitimationsprüfung pro Kunde früher im Schnitt elf Euro gekostet hat, sind es dank der staatlichen digitalen Infrastruktur heute nur noch fünf Cent.

Sicher läuft bei Umstellungen dieser Größenordnung nicht alles reibungslos. So hat etwa die Aadhaar-Karte, so einfach die Idee klingt, ihre Tücken. In einem Land mit mehr als 100 Sprachfamilien und 200 Millionen Analphabeten kann schon die Schreibweise des Namens zur Herausforderung werden. Und wer einmal quer in den Mühlen der indischen Bürokratie steckt, dem hilft nur noch Beten.

Das betrifft keineswegs nur die Ärmsten. So demonstrierte Aakar Patel, der ehemalige Chef von Amnesty International India, wie vielfältig sein eigener Name auf offiziellen Dokumenten falsch steht. In seiner Geburtsurkunde hatte er den Namen „Akar Patel“, beim städtischen Stromversorger „Akkar Patel“ und auf seiner Wahlberechtigungskarte „Aakarpatel“. Jeder Behördengang kann so zum Problem werden. Im Jahr 2020 hat die indische Regierung übrigens die Konten der NGO eingefroren und deren Arbeit damit faktisch beendet.

Einige Menschen fühlen sich zudem angesichts der wachsenden Zahl an Übergriffen auf Minderheiten gar nicht wohl dabei, nun in einer Datenbank mit biometrischen Merkmalen und der aktuellen Anschrift vermerkt zu sein (siehe Indien in Zahlen und Fakten).

Wohin mit all der Jugend?

Obwohl Kanojia froh ist über das neue Geld im Handy, gehört er zu den Letzten, die sich darauf eingelassen haben. Erst im September 2023 war er dazu bereit. Er sei ein alter Mann, erzählt er uns, die neue Technik verstehe er nicht mehr. Er sei froh, dass ihm ein Stammkunde alles eingerichtet habe. Seine Hoffnung für die Zukunft ruht auf seiner Tochter, in deren Ausbildung er sein ganzes Geld steckt: „Ich habe mein Schicksal von den Eltern geerbt – aber meine Tochter wird später mal zur Uni gehen!“ Gegen diesen Plan kann sie sich womöglich so wenig wehren, wie er sich einst gegen den seines Vaters. Auch heute noch wird das Leben eines Kindes maßgeblich von den Eltern bestimmt – über alle Klassengrenzen hinweg (siehe Indien in Zahlen und Fakten). Mit dem bedeutenden Unterschied, dass Kanojias Plan für seine Tochter mit einer uralten Tradition bricht.

Das Kind eines Büglers wird kein Bügler – das ist eine Revolution, die vielleicht größer ist als die Digitalisierung eines Subkontinents. Und der Mann mit den ernsten Zügen ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Wir treffen diesmal überall Menschen seiner Schicht, die uns stolz die Fotos ihrer Kinder vor den Schulen des Landes zeigen.

Diese Revolution wächst gerade erst heran, in den Klassenzimmern Indiens. Es sind die Kinder von Wäschern, Büglern und Brunnenbauern. Wenn sie nach vorn schauen, sehen sie eine verheißungsvolle Zukunft mit neuen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Aufstiegschancen. Wenn sie aber zur Seite schauen, sehen sie Abermillionen Gleichaltriger mit denselben Zielen. Das trübt die Aussicht.

Mehr als 600 Millionen Menschen in Indien sind jünger als 25 Jahre. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei gut 23 Prozent – das sind knapp 60 Millionen Jugendliche, die heute schon einen Job suchen. Und jeden Monat drängt eine neue Million auf den indischen Arbeitsmarkt – stünden diese Neu-Ankömmlinge hintereinander in einer Reihe, reichte die Schlange von München bis Hannover. Jeden Monat!

Das Problem ist: Die Auftragsbücher des verarbeitenden Gewerbes sind nicht voll, und das finanzielle Pulver des Staates mit seinen enormen Infrastrukturprojekten ist kurz vor der Wahl im Frühjahr 2024 bereits verschossen. Laut Weltbank wurde zwischen 2011 und 2018 netto keine einzige neue Stelle geschaffen. Kein Wunder, dass sich auf 40.000 befristete Stellen in der indischen Armee jüngst 3,5 Millionen Menschen bewarben und bei der Auswahlrunde der indischen Eisenbahn zwölf Millionen Menschen um 35.000 Stellen kämpften. Das ist wörtlich gemeint: Es gab Unruhen.

Dabei zeigt die Zahl der Arbeitslosen nur einen Teil der Geschichte. Vielleicht schwerer wiegt die Unterbeschäftigung. Wo im deutschen inhabergeführten Café oft nur eine Person arbeitet, treten sich in Indien oft ein Dutzend Angestellte auf die Füße. Einer öffnet die Tür, einer nimmt die Bestellung entgegen, ein anderer bringt sie, wieder ein anderer kocht den Kaffee, kassiert, putzt und so weiter. Keiner von ihnen ist arbeitslos, aber auch keiner von ihnen ist ausgelastet oder voll bezahlt.

Noch düsterer sieht es in der Landwirtschaft aus, in der 50 Prozent der Arbeitskräfte des Landes beschäftigt sind, die aber nur 20 Prozent zum BIP beiträgt. Der Konflikt um die Felder ist eine weitere Bruchstelle der indischen Gesellschaft. Es wird über Subventionen gestritten, über archaische Anbaumethoden und die immer noch alltäglichen Suizide der Bauern. Im September 2020 belagerten Hunderttausende Landwirte monatelang die Hauptstadt Delhi und lieferte sich Scharmützel mit der Polizei. Es ging um nötige Reformen und die Frage, ob sie eher den Bauern oder den Großkonzernen dienen sollten.

Die Landwirtschaftskrise offenbart tiefe Risse in der indischen Gesellschaft. Zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung, die manchmal nicht nur Kilometer, sondern Jahrhunderte zu trennen scheint. Während man in Delhi laktosefreien Cold Brew Latte in klimatisierten Jazz-Cafés trinkt, prügelt ein Lehrer im zweieinhalb Autostunden entfernten Bundesstaat Rajasthan einen Schüler zu Tode, weil der Wasser getrunken hatte, das höheren Kasten vorbehalten ist.

---ENDE

Indien in Zahlen und Fakten

Der indische Philosoph Amartya Sen zitiert gern seine Lehrerin, die britische Ökonomin Joan Robinson mit den Worten: „Das Frustrierende an Indien ist: Was immer man zu Recht über das Land behaupten kann, das Gegenteil ist ebenso der Fall.“ Das gilt bis heute.

Bevölkerung
Laut Berechnungen der Vereinten Nationen ist die Bevölkerung Indiens seit April 2023 die größte der Welt, vor dem Erzrivalen China. Damit hat sich das Land innerhalb von drei Generationen vervierfacht. Das Durchschnittsalter liegt rund zehn Jahre unter dem der westlichen Industrienationen; jeder fünfte Mensch unter 25 weltweit ist ein Inder oder eine Inderin.

Noch immer hat die Religion einen starken Einfluss. Etwa 80 Prozent aller Menschen in Indien sind Hinduisten. Muslime machen etwa ein Siebtel der Bevölkerung aus, gefolgt von Christen und Sikhs, deren monotheistische Religion im 15. Jahrhundert im indischen Bundesstaat Punjab entstand und großen Wert auf Gemeinschaftsdienste legt. Außerdem leben im Land Buddhisten und Jains. Letztere streben nach Gewaltlosigkeit, Keuschheit, Nichtbesitz und der Loslösung von weltlichen Bindungen.

Zahl der Menschen muslimischen Glaubens, in Millionen, …
… in Saudi-Arabien: 34,2
… in der Türkei: 83,2
… in Ägypten: 104,7
… in Indien: 211,2
… in Pakistan: 225,6

Durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau in Indien, …
… im Jahr 1950: 5,9
… im Jahr 1992: 3,4
… im Jahr 2021: 2,2

Durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau in Deutschland, im Jahr 2021: 1,58

Prozentualer Anteil der Unter-25-Jährigen in Indien …
… im Jahr 2022: 43,3
… im Jahr 2100: 23,9*

Prozentualer Anteil der Über-65-Jährigen in Indien …
… im Jahr 2022: 6,9
… im Jahr 2100: 29,8*

(Quellen: UN; PEW, Destatis, India Census; *Schätzung)

Ökonomie
Zahlen zur wirtschaftlichen Situation Indiens sind so eine Sache. Es gibt sie, aber ihre Aussagekraft ist beschränkt. Indien ist die fünftgrößte Volkswirtschaft der Erde, wächst offiziellen Statistiken zufolge mit gut sechs Prozent im Jahr, und die Arbeitslosenquote liegt 2023 bei lediglich drei Prozent.

Das wäre ein Grund zu feiern, stünden dem nicht 64 Prozent der Einkommensteuerpflichtigen entgegen, die so wenig verdienen, dass sie überhaupt keine Steuern zahlen. Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt laut Steuerbescheid bei umgerechnet 180 Euro im Monat – und es gibt eine enorme Dunkelziffer der Unterbeschäftigten und Überqualifizierten. Drei von vier erwachsenen Frauen haben weder einen Job noch suchen sie einen – abgesehen von der unbezahlten Hausarbeit.

Auf der Habenseite stehen wiederum massive Infrastrukturprojekte, für die im Haushalt 2024 bis 2030 mehr als 1,5 Billionen Euro (doppelt so viel wie 2017 bis 2023) eingeplant sind – rund 400 Milliarden Euro allein für grüne Investitionen. Diese Gegenüberstellung ließe sich lange fortführen. Sicher ist nur: Es gibt Erfolge, es gibt Probleme – und das Potenzial des Landes ist enorm.

Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2022, in Billionen Euro, …
… in Japan: 3,9
… in Deutschland: 3,7
… in Indien: 3,1
… in Großbritannien: 2,8
… in Frankreich: 2,5

Prozentualer Anteil der Menschen, die in Indien von weniger als 2,15 Dollar am Tag leben …
… im Jahr 1977: 63,1
… im Jahr 2004: 39,9
… im Jahr 2021: 11,9

Prozentuale Erwerbsquote von Frauen im Jahr 2022 …
… in Indien: 24
… in Deutschland: 56

Durchschnittliches Monatseinkommen pro Person in Indien 2023, in Euro: 180

Inflationsrate in Indien, in Prozent, …
… in 2020: 6,2
… in 2021: 5,5
… in 2022: 6,7
… in 2023: 5,5

Inflationsrate in Deutschland, in Prozent, …
… in 2020: 0,4
… in 2021: 3,2
… in 2022: 8,7
… in 2023: 6,3

(Quellen: IWF, Weltbank, State Bank of India, »The Economic Times«)

Yoga
Wenig amüsiert die Menschen in Indien mehr, als die Versessenheit der Deutschen auf Yoga. Oder besser: auf deutsches Yoga. Denn was hierzulande als Techno-, Bier- oder Nackt-Yoga verkauft wird, kommt in Indien etwa so gut an, wie die Pizza Hawaii in Italien. Bis zur Wiederentdeckung durch den Premierminister als hinduistisches Weltkulturerbe reizte das indische Yoga die Jugend so sehr, wie sich unsere nach Trimm-dich-Pfaden verzehrt. Während in Deutschland das weltoffene, gesundheitsbewusste und urbane Milieu beinahe geschlossen auf der Kautschukmatte turnt, kräht in Indien kaum ein Hahn nach den Körperverrenkungen, auf die der Westen Yoga oft reduziert.

Prozentualer Anteil der Menschen in Indien, die Yoga praktizieren …
… täglich: 7
… wöchentlich: 13
… noch nie im Leben: 62

Vegetarismus
Ähnlich wie bei Yoga sind die Vorzeichen auch beim Vegetarismus in Indien andersherum als in Deutschland. Hierzulande ist es eher das linksliberale Klientel, das mit Rücksicht auf Körper, Umwelt und Tierwohl auf Fleisch verzichtet. in Indien gilt, wer Fleisch oder Alkohol ablehnt, eher als konservativ. Die vegetarische Ernährung ist fest verbunden mit dem hinduistischen Reinheitsgedanken.

Traditionell verzichtete nur der oberste Stand, die Brahmanen, vollkommen auf Fleisch. Und das ist eine Minderheit im Land. Wer sich gegen sie stellen oder sich mit anderen Gruppen solidarisieren will, isst Fleisch. Deutsches Tofugrillen wirkt in Indien so subversiv wie der Fass-Anstich auf der Wiesn.

So launig das klingt, beim Essen verstehen Inder keinen Spaß. Nur die Hälfte würde sich von Leuten einladen lassen, die anderen Speisegeboten folgen. Brutale Übergriffe auf Menschen, die tatsächlich oder vermeintlich mit – dem für Hindus verbotenen – Rindfleisch zu tun haben, nehmen seit Jahren zu. Ein Fleischhändler aus Mumbai hat daher jüngst Asyl in Irland beantragt. Vergeblich.

Anteil der Menschen in Indien, die sich vegetarisch ernähren, in Prozent: 39

Prozentualer Anteil der Hindus in Indien, die der Meinung sind, dass kein Hindu sein kann, wer …
… nicht an Gott glaubt: 49
… Rindfleisch isst: 72

Liebe
Auch wenn in Bollywood meist die Liebe siegt, im echten Leben entscheidet die Familie, wer geheiratet wird. Und zwar nicht nur bei traditionellen Familien vom Land. Nein, überall. Zwar haben viele, vor allem im gebildeten urbanen Milieu, in der Jugend ihre Liebschaften, manche sogar über religiöse Grenzen hinweg – wenn es aber ums Heiraten geht, kehren die meisten zu einem Partner aus der eigenen Gemeinschaft zurück, der entweder von den Eltern oder wenigstens mit deren Einverständnis ausgewählt wurde. Bis dahin wohnt man meist auch bei den Eltern.

Prozentualer Anteil der Menschen in indischen Städten …
… deren Ehen arranigert waren: 93
… die aus Liebe geheiratet haben: 3

Prozentualer Anteil der arrangierten Ehen bei …
… 80- bis 89-Jährigen: 94
… 20- bis 29-Jährigen: 90

Prozentualer Anteil der 15- bis 35-Jährigen, die …
… noch bei den Eltern wohnen: 65
… bei ihrem Ehepartner wohnen: 31
… bei Freunden oder allein wohnen: 4

Anteil der Frauen in indischen Großstädten im Jahr 2012, die ihren Ehemann vor der Hochzeit kannten, in Prozent: 13

Anteil der Frauen in indischen Großstädten im Jahr 2012, die bei der Partnerwahl durch die Eltern mitreden durften, in Prozent: 70

Religion
Noch unüblicher als die Partnerwahl ohne Einwilligung der Eltern ist eine Heirat jenseits der eigenen Religionsgruppe. So unüblich sogar, dass der Staat eigene Safe Houses an geheimen Orten betreibt, um interreligiösen Paaren Schutz zu bieten, die von ihren Familien mit dem Tode bedroht werden. Oft ist das keine leere Drohung. Selbst Freundschaften verlaufen meist innerhalb der religiösen Grenzen. Mit dem Grad der Bildung steigt die Toleranz: je höher die Schulbildung, desto gemischter der Freundeskreis.

Prozentualer Anteil der Menschen in Indien, die überwiegend oder ausschließlich Freunde des gleichen Glaubens haben …
… unter Muslimen: 89
… unter Hindus: 86

Anteil der Muslime, die in eine Wohnung neben Hindus ziehen würden, in Prozent: 78

Anteil der Hindus, die in eine Wohnung neben Muslimen ziehen würden, in Prozent: 57

Anteil der Sikhs, die in eine Wohnung neben Jains ziehen würden, in Prozent: 56

Anteil der Jains, die in eine Wohnung neben Christen ziehen würden, in Prozent: 46

Quellen: UN, India Census 2011, Pew Research, Destatis, IMF, Weltbank, State Bank of India, „»The Economic Times«, IfD Allensbach, „Mint“, Rukmini S: Whole Numbers and Half Truths