Das Kreuz mit der Blasphemie


Der Historiker Gerd Schwerhoff hat die Geschichte der Gotteslästerung erforscht. Ein Gespräch über die Beleidigung des Allerheiligsten und deren teuflische Folgen.
Die Zeit/bref ↗
Juli 2021


Gerd Schwerhoff ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Technischen Universität Dresden. Nach einer katholischen Jugend am Niederrhein und einer Promotion zur Kriminalitätsgeschichte, widmet er sich seit seiner Habilitation 1997 dem Erforschen der Gotteslästerung. Nun hat er im «S. Fischer Verlag» die erste umfassende Kulturgeschichte der Blasphemie veröffentlicht.

Die Zeit: Herr Schwerhoff, was ist Ihnen heilig?

Gerd Schwerhoff: Die Menschenwürde. 

Wie würden Sie reagieren, wenn ich mich darüber lustig mache ?

Ich bin da nicht sehr empfindlich. Ich weiß, dass Spott auch zur Selbsterkenntnis führen kann.

Als Historiker wenden Sie Ihren Blick auf jene, die empfindlicher sind. Was ist Blasphemie ?

Die Herabwürdigung dessen, was anderen heilig ist.

Und was ist das Heilige?

Das liegt im Auge des Betrachters und wird meist von Religionen definiert, auch heute. Im christlichen Kontext ist das sicherlich Gott und die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist – doch schon bei der Gottesmutter Maria fängt der Streit unter den Konfessionen an. Aber auch die Nation, das Volk oder der Fußballverein können von ihren Anhängern bekanntlich zum Heiligen erhoben werden.

Gibt es Religionskritik, die keine Blasphemie ist?

Ja, spätestens die Rechtsprechung im England des 17. Jahrhunderts unterscheidet zwischen Form und Inhalt. Wenn einer damals nüchterne Argumente gegen die Jungfräulichkeit Marias äußerte, war das etwas anderes, als wenn er sich darüber lustig machte, dass sich Joseph erst schön die Hörner hat aufsetzen lassen und dann auch noch das Märchen vom Heiligen Geist geglaubt hat.

Was ist mit sachlichen, aber radikalen Aussagen wie "Gott gibt es nicht"?

Das ist gar nicht so einfach. Die Forschung ging lange davon aus, dass Unglauben als Blasphemie aufgefasst wurde. Aktuelle Untersuchungen zeigen aber, dass im Mittelalter zwar viel über Unglauben geredet, dieser aber weit weniger kriminalisiert wurde, als wir gemeinhin denken.

Was sind die allgemeinen Gründe für die Schmähung des Heiligen?

Zum einen die Enttäuschung über einen Heiligen. Die reicht bis weit in die Kirche hinein, etwa mit der Entthronung von Heiligenbildern durch Ordenskleriker. Um 1600 gab es eine Verordnung, die untersagte, die Heiligenbilder nach der Prozession in den Teich zu schmeißen, wenn sie es nicht geschafft hatten, für gutes Wetter zu sorgen. Ein zweites Motiv ist die Markierung der Stärke, das Lästern als verbale Kraftmeierei im Alltagsstreit: "Du kannst mir gar nichts, bei Gottes fünf Wunden!" Die Blasphemie soll Unerschrockenheit demonstrieren. Und drittens die polemisch zugespitzte, religiöse Kritik der anderen als falscher Glaube.  

Ihr Buch ist voller Belege für vulgäre Schmähungen durch alle Zeitalter. Der vor Gericht verhandelte Ausspruch "Ich schiss unserem Herrn in die Wunden" eines St. Galler Wirtshausbesuchers im Jahre 1513 ist da noch einer der züchtigeren. Warum sind smarte Schmähungen so selten gegenüber Ausflügen ins Fäkalreich?

Eine gewisse Grobheit gehört schon dazu. Wenn es zu feinsinnig wird, fühlt sich keiner mehr getroffen.

Welche blasphemischen Epochen unterscheiden Sie?

Das Fundament liegt in der Antike, in der Geburt des Monotheismus, also des Glaubens an einen einzigen Gott, und in der Grenzziehung zwischen dem wahren und dem falschen Glauben. Damals ist der Lästerer immer der andere, das ist das Hauptmotiv. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit werden dann auch die eigenen Leute zu Lästerern, zumindest im Christentum. Das ist das Zeitalter der Zungensünder. Dann folgte eine Zwischenzeit, in der die Blasphemie zum Staats- und Gesellschaftsschutz wurde: von der Obrigkeit noch immer verfolgt, aber nicht mehr so streng wie zuvor. Und im globalen Zeitalter schließlich steht der interkulturelle Konflikt im Vordergrund. Hier geht es darum, die einzelnen Identitäten gegen Schmähungen zu schützen. Das erleben wir heute.

Die Schmähung des Heiligen ist zwar so alt wie die Sprache selbst, nimmt aber erst mit dem Monotheismus so richtig Fahrt auf – warum?

Weil der Gott des Alten Testaments in vorher ungekannter Schärfe die Loyalität seiner Anhänger einfordert, zur Herabwürdigung anderer Götter verpflichtet und die Schmähungen der eigenen Person unbedingt verbietet. Zuvor glaubten die Menschen teils an viele Götter zugleich. Wenn der Nachbar andere Götter hatte, war das nicht unbedingt ein Problem. Und nach einer Eroberung brachte man einfach die eigenen Heiligen mit und integrierte die besiegten ins religiöse Portfolio. Der Monotheismus des Judentums machte damit Schluss.

Im Gegensatz zu Judentum und Islam sind aus dem Christentum besonders viele Blasphemien überliefert. Ist die Gotteslästerung eine speziell christliche Disziplin?

Meine These ist: Durch die Menschwerdung Gottes in Jesus rückt der christliche Gott nahe an seine Anhänger heran. Er wird durch seinen Sohn in einer Weise nahbar, wie das weder der jüdische noch der muslimische Gott sind. Es gibt Passionsgebete, in denen das "heilige Haupt" Jesu oder seine "zarte Hand" verehrt wird. Die Kehrseite dieser Passionsgläubigkeit ist die Verbreitung der Gliederschwüre, die Bezug nehmen auf die Körperteile Gottes. Das geht von "Gots Grind", also Gottes Ausschlag, bis "Gots Zers", Gottes Schwanz. Beides hatte im Spätmittelalter zeitgleich Konjunktur.

Aus jüdischer Perspektive lautet die Höllenstrafe im Talmud für die Anmaßungen Jesu das Sitzen in kochendem Kot auf alle Ewigkeit. Warum wurde damals – auf allen Seiten – derart drastisch argumentiert?

Das ist dem eigenen Wahrheitsanspruch geschuldet und lässt sich in allen Religionen finden.

Gerade in frühen Quellen zeigt sich die Blasphemie als Alltäglichkeit. Wie verträgt sich das mit dem tief verwurzelten Glauben der Menschen jener Zeit?

Die Vertrautheit etwa des spätmittelalterlichen Menschen mit seinem Gott war so groß, dass er gelegentlich die Grenzen des Taktgefühls zum Heiligen überschritt. Diese Nähe konnte leicht in Enttäuschung, Frustration und Anklage umschlagen. Das lag viel näher beieinander, als wir uns das heute, mit der Gebetsbuchfrömmigkeit des 19. Jahrhunderts vor Augen, vorstellen.

Welche Spuren davon finden wir aktuell noch in unserer Sprache?

"Sapperment", wie man in Bayern sagt, oder "Sapperlott", das sind alte Sakramentschwüre aus der Reformationszeit. Potz, Kotz, Gotz sind Verballhornungen des Namen Gottes, das finden wir noch in "Potzblitz" oder "Potztausend". Bereits seit dem 19. Jahrhundert hat das aber keine blasphemische Bedeutung mehr. 

Dazwischen liegt die Aufklärung mit der Idee, dass ein allmächtiger Gott keinen braucht, der ihn vor Lästereien beschützt. Warum führte selbst dieser radikale Sinneswandel – mit Ausnahme Frankreichs – nicht zur Aufhebung der Blasphemieparagrafen?

Weil man die Notwendigkeit sah, religiöse Gruppen unter Schutz zu stellen. Religion galt als Stütze des Staates und durfte nicht unterminiert werden. Oder weniger machiavellistisch formuliert: Toleranz musste juristisch abgesichert werden, damit sich die einzelnen Gruppen nicht gegenseitig an die Gurgel gingen. 

Besteht ein Zusammenhang zwischen der Abschaffung der Blasphemiegesetze in Frankreich und den islamistischen Anschlägen der Gegenwart?

Das glaube ich nicht. Es wäre auch falsch zu sagen, dass im Frankreich des 19. Jahrhunderts Religion für vollkommen vogelfrei erklärt worden wäre. Damals gab es immer Diskussionen über Moralvergehen und auch Gesetze, die man als Substitute der Blasphemieparagrafen auslegen konnte. Was Frankreich auszeichnet, ist die Schärfe der Auseinandersetzung. Während sich in Deutschland die konfessionellen Unterschiede fast bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst haben und heute alles so angenehm ökumenisch ist, hat sich der Konflikt in Frankreich zwischen den Kirchen und der nicht religiösen urbanen Elite eher noch zugespitzt. Die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo mit ihrem rücksichtslosen Kurs steht ganz in der Erbschaftslinie dieser radikalen Auseinandersetzung.

Den bislang letzten Epochenwandel sehen Sie in der Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie durch den iranischen Ajatollah Ruhollah Chomeini im Jahr 1989. Warum ist der Tötungsaufruf des ehemaligen politischen und religiösen Führers so bedeutend?

Weil er das globale Zeitalter der Blasphemie einläutet. Der Ost-West-Gegensatz zwischen Kommunismus und Kapitalismus wurde damals abrupt abgelöst von einer als Kulturkonflikt wahrgenommenen Auseinandersetzung zwischen Okzident und Orient. Ein Symptom für die Auflösung der alten Klassengesellschaft in die neue Identitätsgesellschaft. Seither geht es im politischen Diskurs vorwiegend um Fragen der kulturellen Identitäten. Die Blasphemie hilft dabei, diese Identitäten zu schärfen, sie sichtbar zu machen. Sie wurde zum überaus effektiven Werkzeug zur Grenzziehung zwischen "uns" und "denen". Wer den anderen beleidigt, der definiert sich dabei auch selbst. So wertet die Blasphemie nebenbei den eigenen Glauben auf und stärkt ihn. 

Ist die Abgrenzung nach außen ein Grund dafür, dass heute innerhalb der christlichen Konfessionen kaum noch gelästert wird?

Ich fürchte, dass die Religion im Alltag oft so irrelevant geworden ist, dass sie gesellschaftlich einfach nicht mehr lästerungswürdig ist. Das hat sich totgelaufen. Bei uns muss niemand mehr Christ sein. Und ist er es doch, wird er sich kaum noch zu grundlegender Kritik herausgefordert fühlen. Die Spannung ist weg.

Mit ihr ist auch die unbewusste Alltagsblasphemie verschwunden.

Hierzulande ist der Lapsus Linguae, der versehentliche sprachliche Fehltritt, tatsächlich vom Aussterben bedroht. Aber schon in den Mittelmeerländern sieht das anders aus. Da besteht noch eine größere Nähe zur vormodernen Schmähung. Der Fußball in Zeiten der Pandemie hat uns da ein nettes Beispiel beschert. Ohne lärmende Zuschauer sind im Fernsehen plötzlich die Flüche der Spieler zu verstehen – und die haben es bisweilen in sich. Als im vergangenen Jahr ein Mittelfeldspieler von AS Roma "Porco Dio" schimpfte, eine Wortkombination von Schwein und Gott, hatte das eine Disziplinarstrafe zur Folge. Da zeigt sich wieder, dass es die eine, monolithische christliche Gesellschaft des Westens schlicht nicht gibt.

In den von Ihnen zitierten Quellen schmähen fast immer Männer. Gibt es so wenige gotteslästerliche Frauen?

Im alltäglichen Konflikttheater der Vormoderne war die Blasphemie eine klare Männerdomäne. Die wenigen beteiligten Frauen galten als Mannweiber. Später gab es vereinzelt Insassinnen des Wiener Zuchthauses, die in ihrer Verzweiflung absichtlich Hostien frevelten, um sich auf dem Schafott zu Tode bringen zu lassen. So mussten sie nicht selbst die Todsünde des Selbstmords begehen. Bewegungen wie die feministische Punkband Pussy Riot oder die Aktivistinnen von Femen mit ihren Angriffen auf die patriarchale Stellung der Frau in der Kirche sind ein sehr modernes Phänomen.

Wie halten Sie es persönlich mit der Zungensünde?

Sagen wir mal so: Ich habe viel für Spott übrig. Verbote nützten nichts.

Im Zweifel also für die Meinungsfreiheit?

 So einfach ist es nicht. Ich bin auch ein Freund der Selbstreflexion. Im Zweifelsfall bin ich eher für den freiwilligen Verzicht auf Spott. Im Sinne des Mitgefühls.