Das Universum – Ein göttlicher Zeitvertreib


Gerhard Börner ist Astrophysiker. Und Christ. Beides aus vollem Herzen. Ein Gespräch über die Grenzen der Naturwissenschaft und die Sehnsucht nach dem Sinn. 
Die Zeit ↗
Juli 2018

Der Astrophysiker Gerhard Börner, geboren 1941 in Plauen, studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte bei Hans-Peter Dürr und Werner Heisenberg über die einheitliche Feldtheorie in der Kosmologie. Über die Forschung an Zuständen extrem dichter Materie fand er Anfang der siebziger Jahre zur Kosmologie, die ihn bis heute beschäftigt. Seit 1973 arbeitet er am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching, seit 1983 ist er Professor für Physik an der Universität München.

Herr Börner, als Astrophysiker erforschen Sie den Kosmos bis zu seinem jüngsten Tag – ist Ihnen unterwegs je Gott begegnet?

Nein. Das ist schon methodisch nicht möglich. Im physikalischen Weltbild ist kein Platz für Gott. Selbst Versuche, über ihn in der Sprache der Physik zu reden, sind nicht schlüssig. Naturwissenschaftlich lässt sich ein Schöpfer nicht begreifen, weil er außerhalb des Erforschbaren steht.

Gleichzeitig wirft die Physik immer wieder Fragen auf, die wir nur metaphysisch beantworten können ...

Wir stoßen tatsächlich auf viele Dinge, die weit von der Alltagserfahrung abweichen. Der Kohlenstoff im Inneren Ihrer Knochen stammt aus der Mitte längst explodierter Sterne. Wir alle sind letztlich Kinder von Supernovae und materiell mit dem ganzen Kosmos verbunden. Naturwissenschaftlich können wir daraus keinen Sinn ableiten. Die Physik kann nicht einmal fragen, warum unser Universum so ist und nicht anders.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Das muss jeder selber entscheiden. Die einen sagen: Ich lasse nur das physikalisch Beweisbare zu. Die anderen sagen: Ich bin offen, mir ist klar, dass die Erkenntnisse begrenzt sind. Ich persönlich kann mir problemlos Dinge vorstellen, die über physikalische Erkenntnisse hinausgehen. Ich kann glauben. Meine Methoden beeinflusst das nicht.

Ein gläubiger und ein agnostischer Physiker betreiben die gleiche Physik?

Unbedingt.

Sind Sie manchmal froh, wenn Sie nach Wochen erfolgloser Testreihen aus dem Laborfenster schauen und in wolkige Warum-Fragen entschweben können?

O ja. Da gibt es eine schöne Anekdote von Heisenberg, der nach einer komplizierten Diskussion über die mathematische Struktur des Raums plötzlich aus dem Fenster blickt und sagt: "Das ist ja alles gar nicht wahr, der Himmel ist doch blau und da fliegen die Vögel." Natürlich ist die andere Perspektive erholsam. Sehr sogar.

Wie vereinen Sie diese beiden Sichtweisen?

Ich versuche, meine Überzeugungen so miteinander in Einklang zu bringen, dass sie mich rational befriedigen. Für die Naturwissenschaft ist der Mensch nur eine biologische Maschine. Daneben steht die Sehnsucht, dass das Leben einen Sinn hat, dass wir mehr sind als nur Automaten. Der Glaube kann auf diese Weise einen Sinn vermitteln – wenn man das Glück hat, glauben zu können.

Vielen Wissenschaftlern ist es ein rationales Gebot, gerade nicht zu glauben ...

Das ist auch nur eine Glaubensentscheidung. Ich denke, dass man heute in der Physik nicht mehr alles deterministisch sehen muss. Die physikalische Welt ist mittlerweile viel komplexer, als man vor 150 Jahren glaubte. Damals konstruierte man den Gegensatz von Wissenschaft und Glauben.

Dennoch liegt der Glaube an einen Schöpfer, der alles sinnvoll eingerichtet hat, davon sehr weit entfernt.

Sicher sind das Vorstellungen der Religion, die man nicht durch die Naturwissenschaft belegen kann. Da man aber auch nicht das Gegenteil beweisen kann und unser Wissen schlicht nicht ausreicht, muss man jedem seine eigenen Vorstellungen zubilligen.

Sie haben das "Glück des Glaubenkönnens" erwähnt. Wovon hängt das ab?

Naturwissenschaftlich geprägten Menschen fällt das besonders schwer. Sie können nicht ohne Weiteres akzeptieren, dass da jemand behauptet, im Besitz der Wahrheit zu sein, ohne sie beweisen zu können. Für mich deuten viele Erkenntnisse darauf hin, dass die rein physikalische Sicht beschränkt ist. In der Physik beschreiben wir eine Existenz in Raum und Zeit. Wir sehen aber in kosmologischen Modellen, dass selbst Raum und Zeit im Urknall erst entstanden sind – und in schwarzen Löchern wieder vergehen werden.

Das klingt beunruhigend ...

Im Gegenteil, ich finde das sehr befriedigend. Denn wenn das so ist, dann gibt es möglicherweise auch Dinge außerhalb von Raum und Zeit, die für uns nicht erfassbar sind, sich aber entscheidend auf unsere tatsächliche Existenz auswirken.

Sind Sie trotz oder wegen Ihrer Arbeit heute Christ?

Beides trifft zu. Ich bin in einem liberalen evangelischen Umfeld aufgewachsen. Ich schätze diese Gemeinschaft heute noch ungemein, die Feste, die Kirchenbesuche. Natürlich akzeptiere ich nicht alle Glaubenswahrheiten, die verkündet werden. Manches lasse ich offen, wie das wohl die meisten tun.

Müssen Sie bei Predigten manchmal heimlich ins Gesangbuch beißen, um nicht aufzustöhnen ob mancher Unwissenschaftlichkeit?

Die Bibel ist kein Naturkundelehrbuch. Als Wissenschaftler ist mir natürlich klar, dass sie in vielen Dingen nur symbolisch sprechen kann. Die verwendeten Bilder waren für die Leute von vor zwei- oder dreitausend Jahren geläufig. Heute würde man vieles anders schreiben. Meist nimmt die Predigt auf die menschliche Seite des Glaubens Bezug. Das empfinde ich als sehr befriedigend. Auch Theologen versuchen ja nur, die Welt zu verstehen.

Haben Sie im Zuge Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn Ablehnung gegenüber Religion verspürt?

Nein, meine Lehrer waren stets offen. Werner Heisenberg, der meine Doktorarbeit betreut hat, war selbst gläubig. Ich habe nie eine Kluft zwischen mir und anderen Physikern empfunden. Trotzdem gibt es ein Spannungsfeld. Was ich sicher weiß, das ist die Physik, aber das ist mir nicht genug. Doch was ich mir vom Glauben erhoffe, das ist eben nicht so sicher. Das muss ich akzeptieren.

Erhoffen Sie sich Erkenntnisse für die Wissenschaft durch die Religion?

Nein, überhaupt nicht. Der Glaube ist auf das Subjekt beschränkt. Es war ein Fehler, dass man früher versucht hat, naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus der Bibel abzuleiten.

Wie sieht Ihre Verständigung mit Atheisten aus?

Eher unerfreulich. Einige denken: Ein Naturwissenschaftler, der kein Atheist ist, muss doof sein. Ich frage mich: Warum lehnen diese Menschen den Glauben so vehement ab? Wenn es keine Wirklichkeit gäbe außer der von uns fassbaren, dann wäre es sehr schwierig, einen Sinn des Lebens herzuleiten.

Muss es diesen Sinn denn geben?

Ist das nicht eine der schönen Sachen am Glauben, dass man plötzlich einen Sinn im Leben und in dieser wunderbaren Welt ringsum erkennt? Dass das kein absurdes Schauspiel vor leeren Rängen ist? Es ist doch sehr trübselig, was die Naturwissenschaftler zur Sinnfrage zu sagen haben: Alles ist entstanden aus dem Urknall und wird wieder vergehen.

So trübselig wie schlüssig ...

Der Geist, die Schöpfungen des Geistes, all diese wundervollen Dinge sollen für die Katz gewesen sein? Für mich ist diese Vorstellung sehr unerfreulich. Nein, die kann ich nicht akzeptieren. So ein Aufwand sondergleichen für nichts? Ich habe lieber eine Idee, wozu das Ganze gut ist.

Wäre es an der Zeit, die Metaphern und Erklärungsversuche der Bibel zu aktualisieren?

Das fände ich intellektuell reizvoll. Auch die Wissenschaft wird immer weiter verfeinert, je mehr man versteht. Nehmen wir die Geschichte von der Himmelfahrt: Sie wurde von Leuten aufgeschrieben, die nie in den Himmel gefahren sind. Wenn uns der Himmel heute viel näher ist, weil wir ihn mit Flugzeugen erreichen können, dann hat diese Metapher ausgedient. Der Himmel ist uns zu geläufig.

Ist der Gedanke an einen Schöpfergott für Sie logischer als der an viele Götter oder an gar keinen?

Ich halte den Monotheismus für einen intellektuellen Fortschritt der Menschheit. Er entspricht der Motivation der Physik, die eine Vielfalt der Erscheinungen auf wenige, einfache Gesetze zurückführen möchte. Atheismus ist das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen. Logisch betrachtet gibt es da keinen Unterschied.

Sehen das Ihre Kollegen auch so?

Wir sprechen über vieles sehr freimütig, jedoch kaum über den Glauben. Dieses Thema ist äußerst privat. Ich habe nur ganz wenige Kollegen, mit denen ich ernsthaft darüber rede. Keiner von denen ist Atheist.

Verheimlichen Sie Ihren Glauben aus Sorge vor Häme?

Nein, eigentlich nicht. Das ist meine Privatmeinung. Ich bin nicht genötigt, sie preiszugeben.

Hilft es Ihnen, dass Sie in Bayern forschen, wo man das Kreuz verteidigt wie Josef die Unschuld Marias?

Der Wissenschaftsstandort München ist nicht bayerisch geprägt, die Leute kommen von überallher. Trotzdem ist die religiöse Atmosphäre hier eine andere. Es gibt schöne Kirchen, viele Predigten, das soziale Umfeld bietet etwas fürs Gemüt. Das gefällt mir. Mit meinen Kollegen in Potsdam habe ich nie über Glaubensfragen geredet.

Die Zeit der religiösen Physiker wie Max Planck, Albert Einstein, Werner Heisenberg, Pascual Jordan oder Carl Friedrich von Weizsäcker scheint vorüber. Haben Sie bisweilen das Gefühl, zu einer aussterbenden Art zu gehören?

Mei, ich fühle mich eigentlich ganz wohl. Als Stephen Hawking gestorben ist, war ich gerade in Peking an der Uni und habe mit den Kollegen vor Ort darüber gesprochen, was nach dem Tod mit uns passieren könnte. Ein junger chinesischer Physiker sagte etwas Schönes: "Allein schon durch meinen Umgang mit anderen Menschen verändere ich ein bisschen etwas in deren Gehirn und gebe etwas weiter, so vergeht nichts vollständig." Jeder stellt sich solche Fragen.

Dennoch äußern Sie sich eher zurückhaltend über das Metaphysische. In Ihrem Buch The Wondrous Universe schreiben Sie einmal schüchtern das Wort "Seele" auf und entschuldigen es sogleich mit Einschüben. Früher war das ein normaler Begriff für Wissenschaftler ...

Wir wissen heute einfach zu viel, um das so übernehmen zu können. Wir müssen diese Begriffe erst wieder in Einklang mit unserem Wissen bringen.

Sie schreiben auch, Wissenschaft und Religion verhielten sich zueinander wie zwei Burgen mit hochgezogenen Zugbrücken. Sie plädieren für eine Annäherung. Haben Sie keine Sorgen vor einem Wiederaufflammen alter Kriege?

Nein, die Religion könnte im Dialog erkennen, dass die Naturwissenschaft den Glauben nicht bekämpft. Aber man muss sehr genau argumentieren und hinhören, die Bedeutung der Begriffe und die Erklärungen verstehen, ihre Grenzen erkennen. Ich versuche das auf gemeinsamen Veranstaltungen mit Geistlichen. Vor allem die katholische Kirche zeigt sich hier offen.

Mit welchem Erfolg?

Tja, ohne Patentrezept hat man schnell das Gefühl, eigentlich nichts erreicht zu haben. Doch über die Dinge zu sprechen ist der erste Schritt. Man sollte nicht der Verzweiflung anheimfallen, sondern die Dinge optimistisch betrachten. Schließlich ist die Welt doch so schön, wenn ich das einmal unwissenschaftlich ausdrücken darf.

Woher rührt Ihr Optimismus?

Das weiß ich auch nicht. Ich beobachte ihn bei vielen Physikern.

Vielleicht weil Sie staunen können?

Möglicherweise. Mich beeindruckt diese unglaubliche Weite und Reichhaltigkeit des Universums noch heute. Milliarden von Galaxien, alle entstanden aus einem sehr einfachen Anfangszustand. Dass wir Menschen verbunden sind mit diesem ganzen kosmischen Geschehen, finde ich sehr motivierend. Ich bin Teil einer gewaltigen Entwicklung. Die Materie hat sich so organisiert, dass Geist daraus entsteht, der dann wiederum die Materie beherrscht und durchdringt. Wer weiß, was da noch alles geschehen wird? Und mittendrin stehen wir, als Teil dieses großen Ganzen. Das ist einfach großartig, ganz fantastisch sogar.

Haben Sie eine Vorstellung davon, was jenseits von Zeit und Raum ist?

Davon gibt es keine Vorstellung. Wir Menschen können die Welt nur in die Kategorien von Raum und Zeit einordnen. Nun zeigt uns die Physik aber, dass auch Zeit entsteht und vergeht. Mathematisch können wir das beschreiben, vorstellen können wir es uns aber nicht. Da bin ich keine Ausnahme. Es wäre schön, wenn ich dafür Bilder hätte.

Versuchen wir es: Was hat Gott während des Urknalls gedacht?

Gedacht? Ich stelle mir vor, er wollte etwas Interessantes schaffen. Einen Raum von Möglichkeiten, in die sich die Welt hineinentwickeln kann. Wohin die Entwicklung geht, hat er offengelassen.

Demzufolge müsste dieser Gott außerhalb von Raum und Zeit stehen ...

Genau, daher ist alles, was wir als zeitlichen Verlauf wahrnehmen, für ihn komplett gegenwärtig.

Wo bleibt da Raum für den freien Willen oder ein Ausweg aus der völligen Unabänderbarkeit der Zukunft?

Das ist eine ketzerische Vorstellung von mir, aber vielleicht wusste Gott auch nicht genau, wie das ablaufen wird, und er wächst selber mit der sich entwickelnden Welt. Naturwissenschaftlich gesagt hätte Gott das Wirkungsprinzip geschaffen und wäre selbst darin verwoben. Durch die Schaffung der Welt wurde eine Entwicklung und Bereicherung für ihn möglich. Jenseits von Zeit und Raum stelle ich es mir auch recht langweilig vor.

Der Kosmos als göttlicher Zeitvertreib?

Vielleicht. Doch das ist eine persönliche Meinung, keine Wissenschaft.

Sind Sie als Wissenschaftler auch offen dafür, dass Ihnen eines Tages jemand eine Weltformel präsentiert, die ganz ohne einen Erschaffer auskommt?

Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Die physikalische Erklärung der Welt wird ja um den Preis gewonnen, dass der Erklärer nicht mehr darin vorkommt. Für ihn ist ebenso kein Platz wie für Sinn, Geist oder Gott. Die Glaubensfragen bleiben unbeantwortet, und hier muss eine persönliche Entscheidung getroffen werden. Es gibt für den Glauben nicht die Sicherheit, mit der eine physikalische Formel gilt.