Denken Sie jetzt nicht an Hitler!


Ein Besuch beim Stadtmarketing von Braunau am Inn. 
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Februar 2018

Braunau am Inn, das ist der Hans Steininger. Jedes Kind im Ort kennt den alten Stadthauptmann, dessen Bart so lang war, dass er ihn in einem Täschchen aus Samt mitführte oder ihn dreimal um die rechte Fessel schlang, um nicht zu stolpern. Und doch, beim großen Brand von 1567, vergaß er das Hochbinden, trat sich selbst auf den Bart und brach sich das Genick.

Zahllose Denkmäler im Ort erinnern an den Steininger. Allen voran das lebensgroße Grabdenkmal an der Außenmauer der Pfarrkirche St. Stephan, gehauen in roten Marmor. Der drei Ellen lange Bart – über Jahrhunderte im Familienbesitz – ruht nun endlich im Bezirksmuseum Herzogsburg, wo er laut Tourismus-Broschüre „noch heute Besucher aus nah und fern anzieht“.

Bei der Lektüre des Heftchens scheint es, als hätten die Verfasser nur mit Mühe auf das Attribut „bekanntester Sohn der Stadt“ verzichten können. Die Zeitleiste am Ende des Faltblatts, durch die ein Steininger-Darsteller mit angeklebtem Flachsbart führt, geht nahtlos über von 1874 (Stadtbrand) zu 1903 (Besuch Kaiser Franz Josephs I.). Dazwischen nicht mal eine Leerzeile.

So führt eine bärtige Witzfigur durch die Annalen jener Stadt, in der am 20. April 1889 Adolf Hitler geboren wurde. Auch wenn es der Braunauer Tourismus-Verband gern anders hätte – für den Rest der Welt ist dieser der bekannteste Sohn der Stadt.

Auf der Website „Erlebnis Braunau am Inn“ führt die Suche nach „Hitler“ zu einem Treffer, einer Stadtführung. Sie steht zwischen der Traktorfahrt durch die Altstadt und einer QR-Code-Rallye für Volksschüler. Einen eigenen Eintrag zum Haus, in dem Hitler geboren wurde, gibt es nicht. Google Maps ist da ehrlicher: Als prominenteste Attraktion ist dort das „Hitler-Geburtshaus“ mit 3,8 von 5 Sternen und 128 Berichten aufgeführt.

Wer die Einwohner nach dem „Hitler-Haus“ fragt, wie es hier heißt, der bekommt knapp und unumwunden Auskunft. Was der Besucher nicht hört, sind die stillen Verwünschungen. Dafür, dass er sie an den Fluch ihrer Heimat erinnert, statt durch die lauschigen Inn-Auen zu spazieren oder am Malerwinkel zu sinnieren. Weil er nicht die Pracht des Altstadt-Ensembles sieht, mit seinen stattlichen Bürgerhäusern und dem Marktplatz mit italienischem Flair. Weil er nicht honoriert, dass der Oberkommandeur Kutusow aus Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ hier sein Hauptquartier und sogar der Orient-Express in Braunau zwischenzeitlich eine Haltestelle hatte.
Stattdessen wieder nur die Frage nach dem verdammten Haus. Also gut. „Da bitte, übern Marktplatz, hinten durchs Tor, linke Seite, die Hausnummer 15, Sie erkenn’s dann schon, gell?“

Und wie man’s erkennt. Ein maroder Klotz in fahlem Beige mit tief sitzenden, schwer vergitterten Fenstern, ohne Klingelschilder, dafür mit einem schwarzen Schimmelrand, der sich rings um die Fassade zieht wie eine Girlande aus Tod. Es liegt zwischen den artig renovierten Fassaden der Nachbarschaft wie eine Wunde, die nicht heilen will. Hinweise auf seine Vergangenheit gibt das Haus nicht.

Das Haus: ein Sonderfall

Im Gegensatz zu den üblichen Altlasten des Nationalsozialismus ist das Geburtshaus in Privatbesitz. Erbaut irgendwann im Mittelalter, braute darin die Familie Scheibenwang bis 1875 ihr eigenes Bier und nutzte es fortan als Schenke. Die Eigentümer wechselten, die Gaststätte blieb. Im Jahr 1912 – da war Hitler noch ein erfolgloser Maler – gab ihr die neue Besitzerfamilie Pommer den Namen „Zum braunen Hirschen“, der sich aber nicht durchsetzen konnte, weil es schon ein Lokal namens „Zum Goldenen Hirschen“ im Ort gab. Im Jahr 1977 erbte die Enkelin und heutige Besitzerin Gerlinde Pommer das Haus.

Aus Sorge, eines Tages könnten Neonazis hier eine Kultstätte errichten, mietete der Bund das denkmalgeschützte Haus in den Siebzigerjahren. Zuletzt für 4600 Euro. Im Monat. Untergebracht war darin eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Ein starkes Zeichen.

Bis zum Jahr 2011. Da wurde die Renovierung des nicht rollstuhlgerechten Altbaus fällig – und von der Eigentümerin abgelehnt. Sie war zuvor schon aufgefallen, als sie das Anbringen einer Gedenktafel gerichtlich hatte untersagen lassen. Seitdem wohnt nur noch die Zeit im Haus und nagt sich durchs marode Gemäuer.

Im Ort, in dem jeder weiß, was der Nachbar im Kühlschrank hat, gilt Gerlinde Pommer als Phantom. Wenig ist bekannt über die Motive der Gerli, wie man sie hier nennt. Manche sagen, es sei ihre Rache an den Mitbürgern, die sie als Kind gehänselt hätten. Die meisten sagen gar nichts.
Die Stadt: ein Vogel Strauß

Weimar hat Goethe, Salzburg hat Mozart und Braunau hat eben Hitler. Das hat sich keiner ausgesucht, es ändert sich aber auch nicht, wenn man es ignoriert.
„Das Haus spielt im Leben der Braunauer heute keine Rolle mehr“, sagt indes Elke Pflug. Sie leitet die Stadt-, Tourismus- und Standortmarketing Braunau-Simbach GmbH, Europas erstes grenzübergreifendes Stadtmarketing. Es verbindet die beiden von Inn und Landesgrenze getrennten Orte. Will man mit diesem Trick das Stigma loswerden und die Wirtschaft fördern? Ein Firmensitz in Braunau gilt schließlich international nicht gerade als Adelstitel.

Aber nein, sagt Pflug. „Die Städte waren schon immer Freunde.“ Schon als Jugendliche hatte sie stets zwei Geldbörsen auf dem Nachttisch liegen, eine mit Österreichischen Schilling und eine mit D-Mark, so oft war sie drüben auf der anderen Seite. Und als beim Hochwasser im Juni 2016 halb Simbach unter Wasser stand und die Feuerwehrleute aus Braunau wegen fehlender Zuständigkeiten nicht gleich helfen durften, zogen die einfach ihre Uniformen aus und packten als Nachbarn mit an. Das transnationale Stadtmarketing sei eine logische Folge dieser Freundschaft und aus keiner Not geboren.

Während der Tourismusverband Steininger-Broschüren druckt, beschäftigt sich Pflug mit dem Gesamtpaket. Ganz oben auf der Liste der 2015 gegründeten Firma steht das „urban branding“ von Braunau-Simbach mit „einer gemeinsamen inhaltlichen und werbetechnischen Positionierung des gemeinsamen Standorttraums“.

Nur eine Kleinigkeit fehlt in diesem Gesamtpaket: das Hitler-Haus. „Das gehört nicht in unser Aufgabengebiet“, sagt Pflug. Als Privatperson habe sie dazu sicher eine Meinung, aber nicht als Geschäftsführerin der GmbH. Von einem Redeverbot will sie jedoch nicht sprechen – am liebsten möchte sie überhaupt nicht über das Thema reden. Nur so viel darf gesagt werden: „Wir sind keine Täterstadt!“ Und dann schnell: „Aber auch keine Opferstadt.“ Beim ersten Satz war man sich im Ort schon immer einig. Mit dem zweiten hatte man in ganz Österreich seine Schwierigkeiten.

Der Bürger: ein Held

Wenn der Tourismusverband mit der historischen Bartpflege beschäftigt ist und Elke Pflugs Standortmarketingfirma alles kommuniziert, nur nicht den braunen Elefanten im Raum, wer kümmert sich dann um die Vergangenheit Braunaus?

Die Bürger. Ihnen voran Florian Kotanko, wie Elke Pflug in Braunau geboren. Doch im Gegensatz zu ihr darf er sagen, was er will. Kotanko war Lehrer für Latein und Geschichte am örtlichen Gymnasium, später dessen Rektor, jetzt ist er Rentner. Manche Pensionäre spielen Schach, Kotanko schreibt das Internet voll. Auf Braunau-history.at sammelt er alles, was das Stadtmarketing verschweigen muss.

Wie die hiesige Feuerwehr bei der Überschwemmung Simbachs möchte er als parteiloser Historiker bei der Ehrenrettung seiner Stadt anpacken. „Auch um gegen die Vorurteile im eigenen Kopf vorzugehen“, wie er sagt. Zum Beispiel mit historischen Wahllisten, anhand derer er belegt, dass Braunau nie brauner war als das Umland.

Als Sohn seiner Stadt kennt er den peinlichen Moment, wenn er als Reisender nach seiner Herkunft gefragt wird. Nicht einmal Historiker wollen bei jeder Begegnung über Hitler sprechen. Doch bei dieser Stadt gibt es überregional einfach kein zweites Konnotat. Sicher, für die Einheimischen ist es das Bankerl vorm Schüdlhaus, auf dem schon Napoleon sich die Pfeife ausgeklopft hat. Oder das eiserne Ross oben am Weinhansgiebel, das ganz durchlöchert ist, weil die Amerikaner darauf geschossen haben, als ihnen fad war.

Doch für den Rest der Welt ist Braunau immer nur ER. Die Soziologin Judith Forster schreibt in ihrer Diplomarbeit, dass 97 Prozent der befragten Braunauer bereits auf Hitler angesprochen wurden. Dazu noch der Name: Unglücklicherweise wurde der Anführer der Braunhemden und Ehemann von Eva Braun in Braunschweig eingebürgert und in Braunau geboren ...

Dabei gibt es zum Thema eigentlich wenig zu berichten. Denn so schwer die Stadt an Adolf Hitler trägt, so wenig hat der sich zeitlebens für sie interessiert. Die prominente Erwähnung im ersten Satz von „Mein Kampf“ hat rein dramaturgische Gründe. Hitler – der nur wenige Monate im Haus und bloß drei Jahre im Ort gewohnt hatte – ging es um die Funktion als Grenzstadt, wo für ihn keine Grenze sein sollte. Als er beim „Anschluss“ Österreichs durch Braunau fuhr, soll er keinen Blick auf das Elternhaus verschwendet haben und nicht einmal im Ort eingekehrt sein. Als Heimat des Herzens galt Hitler Linz.

Doch was hilft das den Braunauern? Sie können die Besucher ja schlecht mit einer Belehrung nach Linz weiterschicken – auch wenn sie es gern täten. Doch zu nah liegt der Spott über einen Ort, aus dem wenig mehr zu vermelden ist, als dass 1998 eine Familie im Ententeich ertrank und 2001 eine Frau von einem herabfallenden Schafbock schwer verletzt wurde. Da schweigt man lieber.

Doch das sei der falsche Weg, meint Kotanko. Er plädiert für einen offenen Umgang mit den historischen Fakten. Dann passiert es vielleicht auch seltener, dass geschichtsinteressierte, aber schulschwache Neonazigrüppchen versehentlich ins 450 Kilometer entfernte tschechische Braunau im historischen Böhmen fahren und sich dort auf der Suche nach der Salzburger Vorstadt Löcher in die Springerstiefelsohlen laufen.

Die Zukunft: eine bessere

Immerhin scheint ein großer Kampf bald ausgefochten: Seit einiger Zeit hängt an den Garagentoren in Hitlers Hinterhof ein laminiertes Dokument, das über die Enteignung der Eigentümerin Pommer zum Jänner 2017 informiert. Mietzahlungen seien sofort einzustellen. Und was für die Garagen gilt, gilt auch fürs Vorderhaus. Eine Beschwerde der Enteigneten beim Verfassungsgericht wurde bereits abgewiesen. Der Österreichische Rundfunk berichtete daraufhin, Pommers Anwälte bereiteten schon die Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor.

Er wisse auch nicht, was die Gerli reite, sagt Kotanko. Er habe ihr einen langen und persönlichen Brief geschrieben, in dem er ihr geraten habe, das leidige Haus der Republik zu schenken. Das wäre eine große Geste, die den Ärger der Vergangenheit aus der Welt schaffen könnte. Im Ort sagt man, die Dame käme auch ohne die üppigen Mieteinnahmen gut über die Runden. Doch Kotanko bekam nie eine Antwort und teilt damit das Los der Journalisten, die je bei ihr vorgesprochen haben.

Und so macht Braunaus inoffizieller Hitler-Bewältigungsbotschafter weiter. In den Neunzigerjahren wurden mithilfe des damaligen SPÖ-Bürgermeisters Stolpersteine ins Kopfsteinpflaster eingelassen und ein mächtiger Granitblock aus dem Konzentrationslager Mauthausen direkt vor das Geburtshaus gewuchtet. Auch wurde der Verein für Zeitgeschichte gegründet, als dessen Obmann sich Kotanko heute für eine Zukunft mit Vergangenheit einsetzt.

„Es ist vieles besser geworden“, sagt Kotanko, sagen die meisten im Ort. Vorbei seien die dunklen Jahre wie etwa 1979, als 500 Neonazis zum 90. „Führergeburtstag“ nach Braunau pilgerten und Mitbürger Hitler-Souvenirs verkauften. Im Jahr 2011 sei Hitler sogar die Ehrenbürgerschaft entzogen worden. Wer zu bedenken gibt, das sei vielleicht ein wenig spät, der erfährt eine Lektion in Braunauer Bewältigungslogik. Hitlers Ehrenbürgerschaft sei nämlich urkundlich nicht nachweisbar, da diese Unterlagen im Gemeindearchiv fehlten. Na dann. Immerhin wurden der „Adolf- Hitler-Platz“, die „Adolf-Hitler-Straße“ und die „SA-Straße“ nach der Befreiung Österreichs zeitnah umbenannt.

Mit der mutmaßlichen Ehrenbürgerschaft entzog man Adolf Hitler übrigens vorsorglich auch das Heimatrecht, das eigentlich ohnehin mit dem Tod erlischt. Obendrein besteht seit dem Jahr 2001 ein kategorisches Trauungsverbot am 20. April, damit sich frischverliebte Neonazis nicht am „Führergeburtstag“ das Jawort im „Führergeburtsort“ geben können.

Bei aller Entnazifizierungseuphorie ernüchtert es doch ein wenig, dass auch zu Beginn des Jahres 2018 Nazi-Sticker an den Regenrohren rund ums Hitler-Haus kleben. Und auch am Ortsschild auf der Brücke über dem braun strömenden Inn haben die Hooligans von Dynamo Dresden ihr Signet hinterlassen. Die waren wohl auch nicht wegen der QR-Code-Rallye hier.

Wenn das der Steininger wüsste!